Gedichtbände haben es im Allgemeinen schwerer. Zumindest stehe ich meist allein in den Lyrikecken der Buchhandlungen. Daher wundert es mich nicht, dass die Anthologie Die Flügel meines schweren Herzens bisher kaum Beachtung gefunden hat. In ihrem Klappentext wartet sie mit einem Einblick in die Traditionen und in das Selbstverständnis arabischer Dichterinnen auf. Doch lässt sich aus solch einer Anthologie tatsächlich ein Frauenbild gewinnen?
Die Flügel meines schweren Herzens
Der Herausgeber dieser Anthologie ist Khalid Al-Maaly. Er wurde 1956 in Samâwa (Irak) geboren und ist selbst Schriftsteller. Nach der Machtergreifung Saddam Husseins verließ Al-Maaly 1979 das Land und kam über Frankreich nach Deutschland. Er hat viele deutschsprachige Werke ins Arabische übersetzt und umgekehrt. Zudem verfasst er eigene Dichtung und Prosa auf Deutsch sowie Arabisch. Leider gehen seine Beiträge und Leistungen (nicht nur in der Orientalistik) unter.
Auf 192 Seiten führt Al-Maaly durch die Lyrik arabischer Dichterinnen vom 5. Jahrhundert bis heute. Dabei klafft aber eine sehr große Lücke zwischen dem dreizehnten und zwanzigsten Jahrhundert,
die mit der Eroberung Bagdads durch die Mongolen im Jahre 1258 beginnt und bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg reicht. Die literarische Qualität der in dieser langen Zeitspanne von Frauen verfassten lyrischen Dichtung ist sehr uneinheitlich. Zwar hat es durchaus nennenswerte Dichterinnen gegeben, aber viele von ihnen äußerten sich in den verschiedenen regionalen Dialekten, aus denen zu übersetzen im Hinblick auf den begrenzten Umfang unserer Auswahl allzu aufwendig gewesen wäre.1
Die Anthologie enthält mithin frühe Dichtung, vom fernen Hamadan bis nach al-Andalus, und setzt dann mit Dichterinnen des frühen zwanzigsten Jahrhunderts fort. Dementsprechend bietet sie nicht nur eine menschliche Vielfalt, sondern auch eine thematische: von der Liebesdichtung bis zur mystischen Gotteserfahrung, vom Lobgesang bis zum Schmähgedicht, von Freude zur Trauer zum Exil, vom Krieg zum Verlust der Heimat, von missglückter Partnerwahl zur Abfuhr, vom Gefühl zur Leidenschaft zum Koitus.
Die alte Frage nach der Authentizität
Man muss sich jedoch bewusst sein, dass die Existenz jener klassischen Dichterinnen aus der vor- und frühislamischen Zeit nicht bewiesen ist; sie darf und muss auch angezweifelt werden – wie alles, was als Text aus der damaligen Zeit ausgegeben wird, angezweifelt werden muss.
Der ägyptische Literat Tâhâ Hussein (1889–1973) machte 1926 seine Zweifel an der Authentizität der vorislamischen Dichtung publik: Die Dichtung sei Teil der oralen Tradition gewesen; diese mündliche Überlieferung müsse daher in den Dialekten der verschiedenen Stämme stattgefunden haben. Jedoch hat man erst mit dem zweiten islamischen Jahrhundert begonnen, die altarabische (vorislamische), mündlich tradierte Dichtung schriftlich zu erfassen. Beachtet man dann noch die früheste Kodifizierung der Sprache – also die Erarbeitung der Grammatik – im achten Jahrhundert, muss man tatsächlich zweifeln, warum die altarabische Dichtung uns heute in solch einem »Lehrbucharabisch« vorliegt. Es ist daher kaum auszumachen, inwieweit die Texte bearbeitet, verändert und verfälscht wurden.
Legenden über Legenden
Doch fallen nicht nur die vorhandenen Gedichte ins Reich der Mythen, sondern auch die Biographien der frühen Dichterinnen. Ein Beispiel für die Legenden ist Maisûn Bint Bahdal al-Kalbîya.2
Es ist richtig, dass der Kalif Muâwiya I. (603–680) eine Frau mit diesem Namen hatte. Ob sie allerdings dichtete und ob das Beispielgedicht (S. 28–29) von ihr stammte, ist mehr als fragwürdig. Die frühesten Chroniken listen das Gedicht und die Geschichte, die sich darum rankt, nicht auf. Maisûn soll einige Zeit mit ihrem Sohn Yazîd (644–683) bei ihrem Stamm in der Wüste gelebt haben.3 Aus diesem Fernsein von ihrem Mann Muâwiya und dem ummayadischen Hofe entstand die Legende, dass Muâwiya sie wieder in die Wüste geschickt habe, weil sie jenes Gedicht rezitiert habe.
Das war allerdings kein Akt der Güte, sondern vielmehr eine Strafe, da sie ihn als fetten Esel bezeichnete. Das Gedicht ist ein Schmähgedicht, das Muâwiya laut Legende mit dem Zurückschicken in die Wüste und somit mit der Scheidung bestrafte. Dass die geschiedene Mutter mit dem gemeinsamen Kind – dem Nachfolger auf dem Kalifenthron – weggeht, ist allerdings undenkbar.
Als Urheberin des Gedichtes wird heute eine Maisûn Bint Dschandal al-Fazârîya angesehen. Sie war weder eine Frau des Kalifen noch in irgendeiner Weise mit der anderen Maisûn verwandt. Ob das Gedicht aber tatsächlich irgendeiner der beiden zugeordnet werden kann, oder ob es vielleicht doch aus der Feder einer männlichen Hand entsprang, ist nicht gewiss.
Historisches Abbild
Dichtung oder Literatur im Allgemeinen kann kein historisch richtiges Abbild liefern. Wir können anhand dieser Anthologie daher auch keine allgemeinen Rückschlüsse auf das Frauenbild ziehen. Auch wenn Al-Maaly in seinem Nachwort meint, dass Gedichte von Frauen viel über ihre Rolle und ihren Rang in der Gesellschaft verrieten,4 sollte man diese Meinung jedoch kritisch betrachten. Die Biographien und die Existenz der altarabischen Dichterinnen sind weder verlässlich noch gesichert. Betrachtet man sich die Biographien der klassischen Dichterinnen, fällt auf, dass die Mehrzahl am Hofe eines Kalifen lebte. Doch was ist mit den Frauen des Bäckers, des Schächters, des Buchbinders, des Lehrers, des Rabbis? Darüber erfahren wir rein gar nichts. Gehören sie etwa nicht zur Gesellschaft?
Die Verse und Biographien – wie legendenhaft diese auch seien – eignen sich daher nur dazu, bestenfalls Rückschlüsse auf die unmittelbare Umgebung der Dichterinnen und auf die Literatur selbst zu ziehen. Die vielen freizügigen und frivolen Verse sind – meines Erachtens – eher ein Zeichen der Literatur zu einer bestimmten Zeit. Wenn es also in den Versen von Thawâb Bint Abdallâh al-Hanzalîya heißt,
Wär’ doch das, was in meiner Scheide steckt, / in seinem Hintern, und nähm’ mich doch ein andrer Mann!
Dein Penis ist ein Penis, der keine / Erlösung in meiner Scheide finden wird –
so nimm ihn fort von der Tür meiner Scheide / und steck ihn dort hinein, woher er kam!5,
dann ist das sicherlich kein emanzipatorischer Akt, sondern lediglich ein Abbild der Literatur zur damaligen Zeit, nämlich des abbasidischen Kalifats. Ebenso lassen sich Verse männlicher Zeitgenossen finden, die ebenso frivol sind. In einem Schmähgedicht von Abû Nuwâs heißt es:
Alle von uns, o ibn Hudaidsch, / sind Sklaven deines Wissens.
Die Medizin ist jedoch für dich / die wertvollste Beschäftigung.
Du bist darin ein wahrer Philosoph, / wohlunterrichtet über die Schwächen.
Warum ist der Penis leicht, / aber schwerer, wenn er steht?
Und wenn er seinen Inhalt leert, / hängt er und wird welk?
Ist das neu, was er durchmacht, / oder von Ewigkeit her existierend?
Und warum ist es angenehm, zu reiben, / wenn dies wiederholt geschieht?
Doch wenn der Genuss zu Ende kommt, / bückt sich der Penis vor Müdigkeit?6
Oder in einem anderen Gedicht desselben:
Ich sagte: Hier hast du das Glied, bitte es herein! / Dann führte sie mein Lâm in ihr Sâd7
Nachdem ich sie beschlief, streichelte sie mein Glied, / als wäre es das jüngste ihrer Kinder.8
Dichtung lebt von der Stimme
Die Ungewissheit über die altarabischen und klassischen Dichterinnen (sowie sämtlicher Figuren der arabischen Geschichte) weicht der Gewissheit der Moderne. Während wir bei den ersteren nur Vermutungen anstellen können, sind die Gedichte und Biographien der modernen Dichterinnen gut dokumentiert – schließlich profitieren sie von einem funktionierenden Verlagswesen und von ihren Veröffentlichungen.
Doch haben alle Dichterinnen in dieser Anthologie eines gemeinsam: Sie sollten auf Arabisch gelesen werden. Auch wenn wir die Thematik durch die Übersetzungen erfahren können, so geht uns dennoch die sprachliche Kunstfertigkeit verloren – so gut die Übersetzungen auch sein mögen! Wir sind zu Papiermenschen geworden. Wir vernehmen die Sprache nur noch schwarz auf weiß. Das Arabische hingegen lebt noch von seiner Oralität. Dichtung muss vorgetragen werden. Die arabische Dichtung lebt von der Stimme, ihrer Musikalität und von der Performanz. Und auch wenn die moderne arabische Dichtung ihre traditionelle Prosodie (d.h. die traditionelle Metrik, den Rhythmus und den Monoreim) durchbrochen hat, so lebt auch sie von der Mündlichkeit.
Ein samtenes Kleinod
Das Nachwort enthält die nötigsten Informationen, die der orientalistikfernen Leserschaft zugemutet werden können. Einige Aussagen entsprechen nicht mehr dem aktuellen Forschungsstand. So sollte man sich beispielsweise davor hüten, udhritische Dichtung als betont platonisch zu bezeichnen.9 Allerdings ist es mir an vielen Stellen zu schwammig. Ich hätte mir gewünscht, dass er mir mit aller Deutlichkeit sagt, dass wir letztlich nichts mit Deutlichkeit sagen können. Jede Behauptung zum historischen Frauenbild revidiert er wieder, indem er die ungenaue Tradierung, fehlende Schriftlichkeit und die falsche Zuschreibung von Gedichten benennt.
Die Stimme der Dichtung ist universell
Diese Anthologie also allein unter dem Gesichtspunkt zu lesen, dass Frauen dichten, käme der literarischen Leistung nicht gerecht, die hinter jedem einzelnen Vers steckt. »Seht her! Ich dichte als Frau«, war gewiss nicht die Botschaft der Lyrikerinnen. Doch was lässt sich dann aus dieser Anthologie mitnehmen? Dass Frauen der arabischsprachigen, patriarchalischen Welt stets eine literarische, poetische und auch rituelle Stimme besaßen! Nicht mehr und auch nicht weniger. Vielleicht sollte man daher das Buch völlig abgekoppelt vom Klappentext lesen. Zu jedem Gedicht einer Dichterin könnte ich das männliche Gegenstück finden. Und das zeigt letztendlich nur eines: Die Stimme der Dichtung ist nicht dezidiert männlich oder dezidiert weiblich, sondern sie ist universell.
Das Buch selbst ist ein samtenes Kleinod. Es ist in mitternachtsblaues Leinen gebunden, das samtig glänzt, und wirkt dadurch sehr edel. Eine wunderschöne Aufmachung!
Informationen zum Buch und Verlag
Verlag: Manesse Verlag
Gebundene Ausgabe, 192 Seiten (März 2017), 19,95 €
ISBN-10: 3–7175-4092–2
ISBN-13: 978–3‑7175–4092‑2
Das Buch wurde mir freundlicherweise vom Bloggerportal und dem Manesse Verlag zur Verfügung gestellt. Vielen Dank!
- Al-Maaly, Khalid (Hrsg.): Die Flügel meines schweren Herzens. Lyrik arabischer Dichterinnen vom 5. Jahrhundert bis heute. / Al-Maaly, Khalid (Nachw., Übers.); Becker, Heribert (Übers.). Zürich: Manesse 2017, S. 176. ↵
- Ibid., S. 183. ↵
- Das war eine gängige Praxis laut verschiedener Berichte, da man von den Beduinen gutes Arabisch und viele Verse lernen konnte. Zudem war man der Ansicht, dass das Arabisch der Städte verkam. Fast jeder Dichter, Grammatiker, Historiker, Literat und jeder, für den eine gewisse Stellung vorgesehen war, wurde daher als Kind zu den Beduinen geschickt, da ihre Sprache nicht verkommen war. ↵
- Al-Maaly 2017, S. 175. ↵
- Ibid. S. 37–39. ↵
- Übersetzt aus: Wagner, Ewald (Hrsg.): Dīwān Abī Nuwās al-Ḥasan Ibn-Hāniʾ al-Ḥakamī. Band 2. Wiesbaden: Steiner 1972, S. 110–111. ↵
- Die Genitalien werden in diesen Versen mit Buchstaben beschrieben, da sie ihren Formen entsprechen. Lām ل steht dabei für den Penis, ṣād ص für die Scheide. ↵
- Übersetzt aus: Wagner 1972, S. 74. ↵
- Cf. Al-Maaly 2017, S. 176. ↵