Trittst mutig an die Welt / heran, die nicht gewillt, / der nicht gefällt / deiner Dichtung Bild. // Doch man flüstert, man munkelt, / der Mohn sei längst im Herbst zerrötet, / ins Gedächtnis eingedunkelt, / habe Erinnerungen abgetötet. (Sekandar)
Mohn und Gedächtnis
Es ist der zweite und wiederum der erste Gedichtband von Paul Celan. Sein eigentlich erster Band Der Sand aus den Urnen erschien zwar 1948, er ließ die Auflage aber wegen zahlreicher Druckfehler wieder einstampfen. Somit ist Mohn und Gedächtnis der erste offizielle Gedichtband, der 1952 bei der Deutschen Verlags-Anstalt erschien und 2012 – zum 70. Jubiläum – noch einmal neu herausgegeben wurde. Er ist der Anfang einer dichterischen Entwicklung, die viel zu früh ein jähes Ende fand.
Einiges wurde über Paul Celan bereits geschrieben. Und trotzdem bleibt seine Biographie an vielen Stellen ein Buch mit sieben Siegeln. 1920 in Czernowitz (damals Rumänien, heute Ukraine) als Paul Antschel geboren, wuchs er als einziger Sohn deutschsprachiger, jüdischer Eltern auf. 1938 legte er die Matura ab und begann auf Wunsch seines Vaters ein Medizinstudium in Tours, das er infolge des ausbrechenden Zweiten Weltkrieges nicht fortsetzen konnte.
Zurück in Rumänien begann er das Studium der Romanistik mit dem Schwerpunkt auf dem Französischen. Doch die Schrecken des Zweiten Weltkrieges breiteten sich weiter aus. 1942 wurden Celans Eltern deportiert. Sein Vater starb an Typhus, seine Mutter wurde durch einen Genickschuss ermordet. Paul Celan selbst war bis 1944 in einem Arbeiterlager gefangen gesetzt. Nachdem die Rote Armee im August 1944 Rumänien eingenommen hatte, kehrte Celan nach Czernowitz zurück und begann im Herbst das Studium der Anglistik.
Im Jahr darauf zog er nach Bukarest, wo er neben seinem Studium auch als Lektor und Übersetzer tätig war. 1947 floh er nach Wien, von wo es ihn dann 1948 weiter nach Paris zog. Im selben Jahr erschien auch sein erster Gedichtband Der Sand aus den Urnen. 1951 lernte er die Künstlerin Gisèle Lestrange kennen, die er ein Jahr darauf heiratet und mit der er 1955 einen Sohn zeugte. Mit der Goll-Affäre begann für Paul Celan ab 1960 eine schwere Zeit für Leib und Seele. Die Plagiatsvorwürfe (die Witwe des deutsch-französischen Dichters Yvan Goll beschuldigte Celan, er habe das Werk ihres Mannes plagiiert) beschäftigten ihn bis zu seinem Lebensende. Am 19. oder 20. April 1970 suchte er den Freitod in der Seine.
Mutterlose Entwicklung als Dichter
Der Band Mohn und Gedächtnis ist in vier Zyklen1 eingeteilt: 1. Der Sand aus den Urnen, 2. Todesfuge, 3. Gegenlicht und 4. Halme der Nacht. Seinen Titel erhielt er aus einem Vers der Corona: »wir lieben einander wie Mohn und Gedächtnis«. Die Gedichte des Bandes entstanden in den Jahren 1944–1952. Diese lange Zeitspanne bringt Gedichte unterschiedlicher Einflüsse und Stufen hervor. Sämtliche Erfahrungen jener Zeit spiegeln sich in seinen Versen: Ghetto, Flucht, Exil, Heimatlosigkeit, Elternlosigkeit – und ganz besonders die Mutterlosigkeit. Der schmerzliche Verlust der Mutter2 spielt direkt und indirekt in jedem Gedicht eine bedeutende Rolle:
Espenbaum, dein Laub blickt weiß ins Dunkel.
Meiner Mutter Haar ward nimmer weiß.
Löwenzahn, so grün ist die Ukraine.
Meine blonde Mutter kam nicht heim.
Regenwolke, säumst du an den Brunnen?
Meine leise Mutter weint für alle.
Runder Stern, du schlingst die goldne Schleife.
Meiner Mutter Herz ward wund von Blei.
Eichne Tür, wer hob dich aus den Angeln?
Meine sanfte Mutter kann nicht kommen. 3
Todesfuge
Dabei ist das wohl bekannteste Gedicht dieses Bandes zweifellos Todesfuge. Das Thema der nationalsozialistischen Judenvernichtung macht es zum zentralen Beispiel für die Holocaust-Lyrik. Etliche Deutungsversuche und Rezensionen wurden bereits unternommen, dass ich mich nicht in diese Gruppe einreihen möchte. Durch Verse wie »wir schaufeln ein Grab in den Lüften da liegt man nicht eng«4, »er pfeift seine Juden hervor läßt schaufeln ein Grab in der Erde / er befiehlt uns spielt auf nun zum Tanz«5, »er ruft streicht dunkler die Geigen dann steigt ihr als Rauch in die Luft«6 oder »der Tod ist ein Meister aus Deutschland sein Auge ist blau / er trifft dich mit bleierner Kugel er trifft dich genau«7 erzeugt Celan eine gewaltige Wirkung.
Trotzdem wurde er für dieses Gedicht nicht nur mit Lob überschüttet. Die berühmte Gruppe 47 lachte ihn aus, verglich seine Vortragsart mit Goebbels oder einem synagogalen Singsang und mochte seine Dichtung schlichtweg nicht. Auch Theodor Adornos Äußerung, nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, sei barbarisch, begleitete das Gedicht jahrzehntelang.
Der Farbwortkünstler
Celan war ein (Sprach-)Künstler und ein begnadeter Philologe. Es gibt von ihm viele Gedichte, die ich schlichtweg nicht verstehe. Einige wirken befremdlich, andere völlig fremd. Das ist auch in Ordnung, denn ich bin kein Kind seiner Zeit.
Wirklich spannend wurde Celan in meinem Leben allerdings durch die arabischen Übersetzungen von Khalid al-Maaly. (Ich habe Celan durch ihn wahrscheinlich erst richtig wahrgenommen.) Er musste die Schwierigkeit überwinden, auf irgendeine Weise den Reichtum an Wortbildungsmöglichkeiten des Deutschen ins Arabische zu überführen. Das ist keine einfache Aufgabe. Mit Wörtern wie erdunkeln, lebensrot, traumgeschwärzt, rostgeboren, himmeln, sternen, herbsten, giftleer beweist Celan nämlich nicht nur sprachliches Talent, sondern er schafft es auch, neue Wörter zu schöpfen oder neue Bedeutungen zu geben.
Doch nicht nur die technische Seite seines Schaffens zeichnet ihn aus. Seine Bilder lassen sich oft schwer greifen, sind surrealistisch, kryptisch, hermetisch. Dichter wie er machen die Arbeit für Übersetzer schwer und zugleich unwahrscheinlich aufregend.
Bibliophile Neuauflage
Mohn und Gedächtnis enthält viele kraftvolle Gedichte, die keinesfalls einen Dichter in seinem Beginn vermuten lassen. Sie sind durchdacht, von literarischen und musikalischen Einflüssen durchtränkt, spielen mit Tradition und zerbrechen sie zugleich, zerreißen die Wirklichkeit und fügen die Einzelteile neu zusammen, sprechen das Unaussprechliche und verschweigen nicht, was verschwiegen werden will.
Diese bibliophile Neuauflage seines Gedichtbandes Mohn und Gedächtnis ist der Erstausgabe von 1952 nachempfunden. Der Band ist in schwarzes Leinen gebunden und wirkt dadurch schlicht und sehr edel zugleich. Trotz all der Gesamtausgaben ist diese für mich am schönsten, und die enthaltenen frühen Gedichte machen mir Celan gefühlsmäßig erst zugänglich.
Informationen zum Buch und Verlag
Verlag: Deutsche Verlags-Anstalt Gebundenes Buch, Leinen, 104 Seiten (März 2012), 24,00 €
ISBN-10: 3–421-04550–8
ISBN-13: 978–3‑421–04550‑8
Das Buch wurde mir freundlicherweise vom Bloggerportal und der DVA zur Verfügung gestellt. Vielen Dank!
- Zum Aufbau und zur Geschichte des Gedichtbandes cf. May, Marcus et al. (Hrsg.): Celan-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. 2., aktualisierte und erweiterte Auflage. Stuttgart, Weimar: Metzler 2012, S. 54ff. ↵
- Es ist nicht gewiss, wann genau er vom Tod seiner Eltern erfahren haben soll. Vid. May et al. 2012, S. 10: »Wann genau Antschel vom Tod der Eltern erfahren hat, ist mittlerweile umstritten: Einige Quellen berichten von einem Brief der Mutter aus dem Herbst 1942, in dem sie ihren Sohn vom Tod des Vaters unterrichtet; vom Tod der Mutter soll Antschel durch seinen aus dem Lager geflohenen Vetter Benno Teitler erfahren haben. Andere Quellen geben an, dass Antschel noch zu Beginn des Jahres 1944 nichts vom Tod der Eltern wusste und wohl erst bei seiner Rückkehr nach Czernowitz davon unterrichtet wurde.« ↵
- Celan, Paul: Mohn und Gedächtnis. / Bürger, Jan (Nachw.). München: Deutsche Verlags-Anstalt 2012, S. 15. ↵
- Ibid., S. 37. ↵
- Ibid. ↵
- Ibid., S. 38 ↵
- Ibid. ↵