Bitte nicht noch ein Roman voll von esoterischem New-Age-Geschwafel! Bitte, keine Coelho’sche Firlefanzerei über Selbstfindung und der Suche nach Glück! Der Roman Das Flüstern der Bäume, den Stephan Kleiner aus dem Englischen übersetzt hat, ist nichts dergleichen!
Michael Christie
Der Autor dieses opulenten Buches ist der Kanadier Michael Christie. So wirklich gesehen hat man ihn auf dem internationalen Parkett der Literatur noch nicht – oder eher wenig. Auf seiner Webseite beschreibt er sich folgendermaßen ganz kurz:
»Ein ehemaliger Zimmermann und Obdachloser in Notunterkünften, der seine Zeit zwischen Victoria, British Columbia und Galiano Island verbringt, wo er mit seiner Frau und seinen beiden Söhnen in einem selbstgebauten Fachwerkhaus lebt.«
Christie debütierte 2011 mit einer Kurzgeschichtensammlung The Beggar’s Garden, wofür er den Vancouver Book Arward erhielt. 2015 folgte sein erster Roman If I Fall, If I Die, der ebenfalls für einiger Preise nominiert war und letztlich Gewinner des Northern Lit Award wurde. Sein zweiter Roman Greenwood erschien 2019 und wurde 2020 mit dem Titel Das Flüstern der Bäume von Stephan Kleiner ins Deutsche übersetzt.
Eine Einschätzung seines Œuvres kann ich freilich nicht geben, da Das Flüstern der Bäume sein erstes Buch ist, das ich gelesen habe. Nun, worum geht’s?
Das Flüstern der Bäume
Das Buch beginnt mit dem Jahr 2038 und einer Naturführerin namens Jacinda Greenwood. Ob es ein Zufall ist, dass sie denselben Namen trägt wie die Insel Greenwood Island, auf der sie arbeitet, weiß sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Weltweit hat das große Welken eingesetzt, sodass Greenwood Island einer der letzten Orte ist, wo sich tatsächlich noch Bäume finden. Touristen, die es sich leisten können, kommen als »Pilger« dorthin und lassen sich von ihr das beinahe letzte Grün auf Erden zeigen.
Durch ihren Ex-verlobten kommt sie in den Besitz eines Tagebuches, das ihrer Großmutter gehörte. Durch dieses Tagebuch lernt sie ihre Familiengeschichte kennen. Sie erfährt von ihrem Vater, der als Zimmermann seinen Lebensunterhalt bestritt, von ihrer Großmutter, die als Hippie und Aussteigerin dem Familienerbe den Rücken kehrt, und sie erfährt die Geschichte der Brüder Everett und Harris Greenwood.
Das Wurzelgeflecht, das alles umspannt
Der Wald ist nicht nur ein bloßes Bild in seinem Roman, sondern er war auch sein Leitmotiv, womit er eine Familiengeschichte wie die Jahresringe eines Baumes aufbaut. So geht er von außen nach innen (2038, 2008, 1974, 1934, 1908) und wieder zurück nach außen (1934, 1974, 2008, 2038). Jedoch sind die Jahresringe nur ein Teil davon. Der womöglich wichtigere Teil ist das Wurzelgeflecht, das alles umspannt und alle Figuren, alle Geschichten miteinander verbindet.
Dabei fängt Christie durch seine Figuren gekonnt den Geist der verschiedenen Zeiten ein: Erster Weltkrieg, Zwischenkriegszeit mit Weltwirtschaftskrise, Hippiebewegung und so weiter. Doch noch viel wichtiger sind die Entwicklungen jeder einzelnen Figur. Man könnte sagen, dass jede Figur ihren ganz eigenen Entwicklungsroman habe.
Beachtlich ist zudem, wie Christie komponiert. Jede Erzählung hat ihren eigenen Stil, ihre eigene Couleur oder besser: Tonalität. Als wären die Erzählungen Libretti einer, naja, vielleicht nicht Oper, aber einer Operette.
Eine sanfte und zärtliche Stimme
Noch etwas anderes: Christie führt in einer der Erzählungen auch ein homoerotisches Motiv ein. Vielleicht ist es besser, von einem homotropischen Motiv zu sprechen, da die Erotik gar nicht wirklich im Vordergrund steht. Diese Beziehung, die zwischen zwei gleichgeschlechtlichen Figuren entsteht, stellt Christie wundervoll dar. Aber er gibt ihnen keine Zukunft.
Es ist eine literarische Notwendigkeit, dass sie auseinandergerissen werden. Die Zeit war damals noch nicht reif dafür. Und obwohl sie ihre Beziehung im Geheimen hätten weiterführen können, hätte eine der beiden Figuren genug vom Verstecken gehabt. Ich hätte an Christie gezweifelt, wenn er ihnen die Chance gegeben hätte, für immer zusammenzubleiben.
Nein, er hat klugerweise den richtigen Zeitpunkt gewählt, um das Schicksal seinen Lauf nehmen zu lassen. Dennoch: Er gab ihnen eine sanfte und zärtliche Stimme auf eine sehr charmante und unschuldige Weise.
Starker und vollendeter Roman
Ich habe es lange nicht erlebt, dass mich ein Buch so bewegt; dass ich über das Ende einer Geschichte wehmütig bin. Dabei war ich Michael Christie zunächst böse wegen seiner ersten Kapitel. Ich erwartete eine beinahe dystopische Geschichte, worauf ich so gar keine Lust hatte. Das Buch konnte ich zu Beginn getrost weglegen, ohne dass ich den Drang verspürte, unbedingt weiterlesen zu wollen.
Und ich halte diese Kapitel oder allgemein die Jahre 2038 für die schwächsten eines ansonsten sehr starken und vollendeten Romans. Man merkt schnell, welche Geschichten er selbst bevorzugte und bei welchen er mit vollem Herzblut dabei war.
Aber dieser Mann kann schreiben und er kann erzählen! Er setzt seine Wortgewalt gekonnt ein – mal subtil und mal mit voller Wucht. Also verzieh ich ihm alles.
Informationen zum Buch und zum Verlag
Verlag: Penguin Verlag
Hardcover mit Schutzumschlag, 560 Seiten, 22,00 €
ISBN: 978–3‑328–60079‑4
Das Buch wurde mir freundlicherweise vom Bloggerportal und dem Penguin Verlag zur Verfügung gestellt. Vielen Dank!