Fried, Ame­lie: Die Spur des Schweigens

Ame­lie Fried kann­te ich vor ihrem Roman Die Spur des Schwei­gens nicht. Die­ses Buch ist das ers­te und ein­zi­ge, das ich von ihr las; ich konn­te es mir also unvor­ein­ge­nom­men zu Gemü­te füh­ren. Der Klap­pen­text klang viel­ver­spre­chend: Me-too-Debat­te, sexu­el­le Über­grif­fe, ein Selbst­mord, ein ver­schwun­de­ner Bru­der und all das im wis­sen­schaft­li­chen Milieu. Der Stoff bie­tet mut­maß­li­chen Zunder.

Die Spur des Schweigens

Cover, Hey­ne Verlag

Julia Feld­mann ist eine vier­zig­jäh­ri­ge, allein­ste­hen­de Frau. Ihr Vater, der stets namen­los bleibt, ist an Krebs gestor­ben. Ihre Mut­ter Git­ta lebt allein und ver­liert so lang­sam ihr Gedächt­nis. Zwölf Jah­re zuvor ist Juli­as Bru­der Robert auf einer Nor­we­gen­rei­se ver­schol­len gegan­gen. Von sei­ner Lei­che gibt es seit­her kei­ne Spur.

Als freie Jour­na­lis­tin hält sich Julia müh­sam mit Arti­keln zu medi­zi­ni­schen The­men über Was­ser. Ihr Haupt­auf­trag­ge­ber ist Chris­to­pher Hen­sel – ein Freund aus der Jour­na­lis­ten­schu­le und heu­ti­ger Chef­re­dak­teur von Gesund­heit heu­te. Im Sin­ne des Selbst­er­fah­rungs­jour­na­lis­mus tes­tet sie ver­schie­de­ne Abnehm- und Schön­heits­pro­duk­te und macht auch New-Age-Ver­an­stal­tun­gen mit. Die­ser bana­len Sto­ries müde, bit­tet sie Chris um eine rich­ti­ge Sto­ry. Er gibt ihr einen Hin­weis. In einem renom­mier­ten For­schungs­in­sti­tut soll es zu sexu­el­len Über­grif­fen gekom­men sein.

Julia hält eigent­lich nichts von der Me-too-Debat­te und steht dem Gan­zen eher kri­tisch gegen­über. Doch sie beginnt ihre Recher­chen und deckt immer mehr Macht­miss­brauch, Schwei­gen und Ver­tu­schun­gen auf. Auch ihr Bru­der scheint in irgend­ei­ner Wei­se dar­in ver­wi­ckelt gewe­sen zu sein.

Spoi­ler überspringen

Bezie­hungs­ge­stör­te Heldin

Die Hel­din Julia hat es schon nicht so leicht. Sie hat den Ver­lust des Bru­ders nie rich­tig ver­kraf­tet. Ihr Bezie­hungs­le­ben ist nicht wirk­lich von Erfolg gekrönt, denn meist trennt sie sich, bevor der ande­re sich tren­nen könn­te. Zudem greift sie ger­ne zum Alko­hol, der zu ihrer unge­sun­den Ernäh­rungs­wei­se und ihren nicht vor­han­de­nen Tages­ab­lauf sein Übri­ges bei­trägt. Zudem wird ihre Mut­ter dement

Ihre bes­ten Freun­din­nen – Nina und Kath­rin – haben ihr einen Sal­sa-Kurs geschenkt. Nun muss sie auch dar­an noch teil­neh­men und sich den Tanz­leh­rer Jor­ge und sein Gere­de über Sal­sa und Lie­be antun. Aber nach jedem Kurs­ter­min gehen die Mädels ins ita­lie­ni­sche Restau­rant Da Gino und las­sen ihre Aben­de dort aus­klin­gen. Nina ist in einer Bezie­hung mit dem »lang­wei­li­gen« Leh­rer Felix; sie schaut und flir­tet aber auch gern woan­ders. Kath­rin ist allein­er­zie­hen­de Mut­ter, die ihr Mann sit­zen las­sen hat, denn er hat sich nicht von ihr ange­zo­gen gefühlt.

Noch vor ihren Recher­chen lernt Julia den gut aus­se­hen­den Fern­seh­mo­de­ra­tor Sebas­ti­an Bay­er ken­nen. Sein Kame­ra­mann tritt ihr ver­se­hent­lich auf den Fuß und Sebas­ti­an trägt sie dann hel­den­haft hucke­pack davon zur Hotel­bar. Er gefällt ihr, aber Julia fällt in ihr altes Mus­ter. Zwar ver­ab­re­det sie sich mit ihm und sie lan­den im Bett, danach stößt sie ihn aber von sich.

Opfer und Opfer bringen

Doch das schein­ba­re Haupt­the­ma sind Juli­as Recher­chen zu sexu­el­len Über­grif­fen am Johan­nes-Löwe-Insti­tut, wo auch ihr Bru­der gear­bei­tet hat. Ihre ers­te Spur erhält sie von der Wis­sen­schaft­le­rin Dr. Aria­ne Hil­de­brandt, die nicht mehr als ver­steck­te Hin­wei­se geben kann. Sie geht dort­hin und forscht inves­ti­ga­tiv nach. Sie bleibt aber nicht unent­deckt. Die chi­ne­sisch­stäm­mi­ge Dok­to­ran­din Shen­mi nimmt Kon­takt zu ihr auf und belie­fert sie fort­an mit Infor­ma­tio­nen und treibt noch wei­te­re Opfer auf. Der Ver­däch­ti­ge: Post­Doc Dr. Jens Höger.

Aber auch der Lei­ter des Insti­tuts – Prof. Dr. Carl-Fried­rich Dett­mer – steht in Ver­dacht, die Taten sei­nes Spröss­lings zu ver­tu­schen und zudem wis­sen­schaft­li­che Ergeb­nis­se sei­ner Dok­to­ran­din­nen zu steh­len und selbst zu verwerten.

Wäh­rend sie Dett­mer direkt kon­fron­tiert, spielt sie mit Höger eine Art Spiel. Sie ver­kal­ku­liert sich jedoch, trinkt in einer Bar viel zu viel und lan­det mit ihm im Bett, ohne zu wis­sen, dass er das Gan­ze gefilmt hat. Julia macht sich dadurch erpress­bar. Dar­über hin­aus muss­te auch noch Sebas­ti­an sie zusam­men mit Höger in die­ser Bar sehen, wie sie um Högers Hals hängt.

Aber sie schafft es, eini­ge Opfer zu fin­den und ihre Geschich­ten auf­zu­schrei­ben. Die Sto­ry ist aller­dings zu groß für Gesund­heit heu­te. Sie wen­det sich also an spek­trum. Dort kauft man ihr die Sto­ry für 18.000 Euro ab. Sie wird gedruckt. Höger macht sei­ne War­nung wahr und ver­öf­fent­licht das Sex-Video.

Es folgt ein anstren­gen­der Pro­zess – für sie und für die Opfer. Dett­mer wird frei­ge­spro­chen. Höger wird zu einer zwei­jäh­ri­gen Gefäng­nis­stra­fe ohne Bewäh­rung und zur Zah­lung von Schmer­zens­geld ver­ur­teilt. Für ihre inves­ti­ga­ti­ve Sto­ry gewinnt Julia den Deut­schen Jour­na­lis­ten­preis in der Spar­te Wis­sen­schafts­re­por­ta­ge und letzt­lich rauft sie sich mit Sebas­ti­an zusam­men und ver­sucht, Lie­be ein­fach zuzulassen.

Der ver­lo­re­ne Sohn

Dane­ben gibt es noch einen wei­te­ren Erzähl­strang, der sich mit Juli­as Bru­der Robert und sei­nem Ver­schwin­den beschäf­tigt. Die­ser Erzähl­strang fun­giert als Flash­back. Er beginnt mit dem Tag des Ver­schwin­dens und wie Julia zu ihren Eltern fah­ren und der Poli­zei Infor­ma­tio­nen zu ihrem Bru­der geben muss. Man geht von einem Unfall aus, hält aber auch einen Sui­zid für mög­lich. Sei­ne Lei­che wird jeden­falls nicht gefunden.

Danach führt der Flash­back über Kind­heits­er­in­ne­run­gen zur Gegen­wart. Robert fühlt sich, als stün­de er immer im Schat­ten sei­ner gro­ßen Schwes­ter. Das Abitur schafft er wegen sei­ner Prü­fungs­angst nicht. Eigent­lich soll er wie sein Vater Medi­zin stu­die­ren und Arzt wer­den. Sein Vater ist ent­täuscht und Robert kommt sich wie ein Ver­sa­ger vor. »Bei euch gibts Lie­be nur gegen Leis­tung« (S. 63)

Danach bricht er mit sei­ner Fami­lie. Er macht eine Aus­bil­dung und arbei­tet im Johan­nes-Löwe-Insti­tut als BTA. Dort lernt er die chi­ne­si­sche Dok­to­ran­din Yen­ma ken­nen und sie ver­lie­ben sich. Es ist sei­ne ers­te Bezie­hung. Doch Yen­ma wen­det sich plötz­lich von ihm ab. Sie möch­te nicht mehr mit ihm schla­fen. Aber sie möch­te ihn trotz­dem hei­ra­ten, damit er sie immer beschüt­zen kann. Dann sieht er sie jedoch, wie Höger sie angrapscht und im Fahr­stuhl küsst. Für Robert ist klar, dass sie etwas mit Höger hat, und er trennt sich von ihr.

Wenig spä­ter bringt sich Yen­ma um. Erst jetzt rea­li­siert Robert, dass Höger sie miss­braucht hat. Robert ist zu fei­ge, etwas zu tun. Er plant sei­nen eige­nen Selbst­mord in Nor­we­gen. Aber er kann es nicht durch­zie­hen. Er setzt sich dann in Spa­ni­en ab und lebt dort unent­deckt zwölf Jah­re lang. Bis Julia ihn mit­hil­fe eines Detek­tivs findet.

Der gan­ze Roman ist seelenlos

Nun, was taugt die­ses Buch? Im Grun­de genom­men, nichts. For­mal betrach­tet, wirkt er ganz span­nend. Der Plot ist gut durch­dacht. In der Theo­rie hat er schon sei­ne Rei­ze. Die Auf­spal­tung in zwei Erzähl­strän­ge, also in die bei­den Geschich­ten von Julia und Robert, die dann zusam­men­lau­fen, ist ganz nett. Die Geschich­te von Julia steht dabei im typi­schen Erzähl­tempus, also im Prä­ter­itum, und die Geschich­te von Robert steht im Prä­sens. Der Flash­back wirkt dadurch auch wie ein Flash­back, der die Ver­gan­gen­heit zur Gegen­wart macht.

Aller­dings bleibt jede Figur nur ein ober­fläch­li­ches Kon­strukt. Nicht eine ein­zi­ge Figur hat eine gedank­li­che oder gar emo­tio­na­le Tie­fe. Sie las­sen sich alle nicht grei­fen. Ohne ihre Bio­gra­fien wären sie alle gleich. Fried kann kei­ne Gefüh­le erzäh­len. Sie kann kei­nen Schmerz, kein Leid, kei­ne Trau­er erzäh­le­risch dar­stel­len. Bei ihr wird alles zu einer emo­tio­na­len Pampe.

Man könn­te sagen: Ja, ja, die Opfer der sexu­el­len Über­grif­fe kön­nen doch gar nicht ihre Gefüh­le nach außen zei­gen. Sie schä­men sich. Sie trau­en sich nicht. Aber gera­de da hät­te Fried anset­zen müs­sen. Es braucht den Kon­trast! Auch wenn sie nach außen nichts zei­gen, wer­den sie doch inner­lich zer­bers­ten. Was macht es mit einer Frau, die sexu­ell beläs­tigt, ver­ge­wal­tigt wur­de? Was fühlt sie? Fühlt sie Ekel? Gegen sich selbst? Gegen den Täter? Wie wird sie davon zerfressen?

Aber nichts der­glei­chen. Frieds Roman neigt dazu, rei­ne Mit­tei­lungs­pro­sa zu sein. Kei­ne Figur, kein Ort, kei­ne Situa­ti­on, nichts wird plas­tisch. Abso­lut gar nichts wird erzäh­le­risch dar­ge­stellt. Alle Orte sind Nicht-Orte. Selbst in Spa­ni­en ist nichts spa­nisch. Sie sieht aufs Meer. Der Son­nen­un­ter­gang ist spek­ta­ku­lär. Es gibt kei­ne Gerü­che, kei­ne Geräu­sche, kei­ne Far­ben. Der gan­ze Roman ist see­len­los. Nichts ist leben­dig. Es gibt kei­ne ein­zi­ge leben­di­ge Figur. Es gibt gar nichts. Und hier folgt eine klei­ne Aus­nah­me: Robert. Allein bei Roberts eige­ner Geschich­te, die im Buch kur­siv gesetzt ist, habe ich den Ein­druck, dass Fried doch etwas die Ober­flä­che des Gefühls ankrat­zen kann.

Noch blö­der kann man sich das nicht ausdenken

Ober­fläch­lich, kit­schig, kli­schee­haft, inhalts­leer. Das sind die pas­sen­den Stich­wör­ter für zu vie­le Epi­so­den in die­sem Roman. Die Mädels­run­de zwi­schen Julia, Nina und Kath­rin, die immer nach dem Sal­sa-Tanz­kurs im ita­lie­ni­schen Restau­rant Da Gino essen und über ihre kläg­li­chen Bezie­hun­gen und ihren faden All­tag reden, hat schon etwas von einem schwa­chen Abklatsch von Sex and the City.

Hier hat­te mich die Autorin fast. Für einen gewis­sen Moment dach­te ich: Aha! Sie stellt das alles rea­lis­tisch dar und nimmt jeden aufs Korn. Vor allem mit Juli­as schein­ba­rer Stim­me der Ver­nunft, die nichts vom hei­ßen Lati­no Jor­ge und sei­nem sexis­ti­schen Sal­sa-Gela­ber hält, dem die Frau­en so ver­fal­len. Aber der Schein trügt. Fried packt noch mehr Kli­schees aus. Nina ver­liebt sich in Karim – einen Kur­den –, der ihr ver­heim­licht, dass er eine Frau und zwei Kin­der hat. Nun gesteht sie es ihrem eigent­li­chen Part­ner Felix, der über­glück­lich wird, da er sei­ne eige­ne Affä­re nicht mehr ver­heim­li­chen muss und sich end­lich tren­nen kann. Dumm gelaufen!

Über­haupt hat sich Fried gehalt­lo­ser und stumpf­sin­ni­ger Moti­ve bedient. Natür­lich muss Julia mit dem Haupt­ver­däch­ti­gen im Bett lan­den (alko­ho­li­siert, ver­steht sich). Und natür­lich muss er das gefilmt haben, um sie erpress­bar zu machen. Es dient ja schließ­lich zur Ver­an­schau­li­chung des Macht­miss­brauchs. Julia wirkt doch wie ein Aschen­put­tel. Sie hält sich mit sinn­lo­sen Arti­keln über Was­ser. Ihr Wert wird nicht geschätzt. Ihr Chef behan­delt sie macho­haft von oben her­ab. Zu guter Letzt bekommt sie ihren Traum­prin­zen Sebas­ti­an, den sie fast ver­grault hat, lan­det mit ihrer Sto­ry einen Erfolg und bekommt sogar noch den Deut­schen Jour­na­lis­ten­preis in der Spar­te Wis­sen­schafts­re­por­ta­ge. Noch blö­der kann man sich das nicht ausdenken.

Ihre Spra­che ist ohne Zauber

Zudem mag ich das nicht, wenn ich beim Lesen genau weiß, was als nächs­tes pas­siert oder wie eine Geschich­te gar enden wird. Posi­tiv gedeu­tet, bin ich wohl ein intui­ti­ver Leser, der eine Ver­bin­dung zur Autorin und zu ihrem Buch hat. Nega­tiv gedeu­tet, bedient sich die Autorin abge­dro­sche­ner und bana­ler Moti­ve, sodass alles erwart­bar wird.

Und trotz alle­dem habe ich das Buch nicht ver­krampft gele­sen. Es liest sich sogar recht flott. Ich habe das gern, wenn jemand gut schrei­ben kann. Irgend­wie scheint es so, als ob Fried Die 50 Werk­zeu­ge für gutes Schrei­ben von Roy Peter Clark gele­sen hät­te. Alle Tipps, die sol­che Schreib­rat­ge­ber mit­ge­ben, fin­den sich in Frieds Buch umge­setzt. Dadurch liest es sich gut, wirkt aber stil­los. Ihre Spra­che ist ohne Zau­ber. Sie kennt kei­ne Poe­sie. Nicht einen Satz, nicht einen Aus­druck habe ich mir mar­kie­ren kön­nen, da alles gleich, alles banal klingt.

Kläg­li­cher Unterhaltungsroman

Der Roman hat letzt­lich nichts mit hoher Lite­ra­tur zu tun. Mir scheint, hier hat sich ein Tri­vi­al­ro­man das Kleid eines wich­ti­gen gesell­schaft­li­chen The­mas ange­zo­gen. Und das war’s. Bei die­sem The­ma hat­te ich mir mehr erhofft. Ich will mehr Lite­ra­tur zu #MeToo! Ich will, dass sie laut ist! Sie soll so laut sein, dass es den Ver­wei­ge­rern auf die Ner­ven geht! Und ich bin mir sicher, dass die­ser Roman kom­men wird. Fried hat ihn hin­ge­gen nicht abgeliefert.


Anmer­kun­gen zum Satz: Roberts Sze­nen wur­den kur­siv gestal­tet. Das ist eine net­te Idee, aber ungüns­tig. Her­vor­he­bun­gen wer­den dann im nor­ma­len Schrift­schnitt gesetzt. Die Wir­kung ist aller­dings nicht die­sel­be, wie das Kur­siv­set­zen im nor­ma­len Text. Die Her­vor­he­bun­gen las­sen sich schlicht­weg nicht wahr­neh­men. Zudem ver­ste­he ich die Logik nicht, Sei­ten­zah­len auf der rech­ten Sei­te kon­se­quent links zu set­zen. Wer schaut denn bit­te im Inne­ren des Buches nach?


Infor­ma­tio­nen zum Buch und zum Verlag

Ver­lag: Hey­ne Verlag
Hard­co­ver mit Schutz­um­schlag, 496 Sei­ten, 22,00 €
ISBN: 978–3‑453–27048‑0

Das Buch wur­de mir freund­li­cher­wei­se vom Blog­ger­por­tal und dem Hey­ne Ver­lag zur Ver­fü­gung gestellt. Vie­len Dank!