Antoon, Sinan: Ira­ki­sche Rhapsodie

Der Irak gehört sprach­lich, geschicht­lich und kul­tu­rell zu mei­ner Lieb­lings­re­gi­on der ara­bisch­spra­chi­gen Welt. Lite­ra­tur aus die­ser Regi­on lese ich des­we­gen auch beson­ders gern. Irgend­wann stieß ich auf den ira­ki­schen Autor Sinan Antoon und sei­ne Ira­ki­sche Rhap­so­die. Ich habe das ara­bi­sche Ori­gi­nal ver­schlun­gen und war begeis­tert. Nun habe ich die deut­sche Über­set­zung in Augen­schein genommen.

Womög­lich sind mei­ne nach­fol­gen­den Aus­füh­run­gen an man­chen Stel­len zu wis­sen­schaft­lich oder zu ara­bistisch. Ich den­ke den­noch, das Bil­dung und Wis­sen noch nie­man­dem gescha­det haben.

Ira­ki­sche Rhapsodie

Ara­bi­sches Cover, Al-Kamel Verlag

In den Archi­ven des ira­ki­schen Innen­mi­nis­te­ri­ums fin­det sich im Jah­re 1989 ein kaum les­ba­res hand­schrift­li­ches Doku­ment, das von einem Gefäng­nis­in­sas­sen geschrie­ben wur­de. Mit­ar­bei­ter Talâl Ach­mad hat die Auf­ga­be, es zu ent­zif­fern und zu tran­skri­bie­ren. Was er ent­zif­fert, bil­det den Roman – eine lose Samm­lung von Erin­ne­run­gen, Träu­men und Beob­ach­tun­gen aus der Feder eines gewis­sen Furâts, des eng­li­schen Lite­ra­tur­stu­den­ten, Dich­ters und Querdenkers.

Furât ist ein jun­ger Ira­ker. Er lebt in Bag­dad zu Zei­ten des ers­ten Golf­krie­ges, des Krie­ges zwi­schen Irak und Iran. Auf­grund kör­per­li­cher Ein­schrän­kun­gen ist er vom Kriegs­dienst befreit und kann sich daher sei­nem Stu­di­um wid­men. Er lebt bei sei­ner christ­li­chen Groß­mutter, die sich seit dem Tod sei­ner Eltern bei einem Ver­kehrs­un­fall um ihren Enkel küm­mert. Sie macht sich Sor­gen um ihn, denn genau wie sie, hält er nicht viel von der Regie­rung. Zusam­men mit sei­nem Freund Falâch geht er ger­ne zu Fuß­ball­spie­len ins Sta­di­on. Außer­dem ver­liebt er sich in sei­ne Kom­mi­li­to­nin Arîdsch, mit der er eine Roman­ze erlebt und auch sexu­el­le Erfah­run­gen sammelt.

Ein Sam­mel­su­ri­um und Wirrwarr?

Cover, Lenos Verlag

Die Erzäh­lung beginnt mit dem Tag sei­ner Fest­nah­me und sei­nem Abtrans­port. Den genau­en Grund weiß er zu dem Zeit­punkt selbst noch nicht, aber es wird ihm bewusst, dass es etwas mit sei­nen Schrif­ten zu tun haben muss.

»Uns gefal­len dei­ne Ansich­ten und dei­ne Gedan­ken. Wir möch­ten sie aus dei­nem eige­nen Mund hören.« Dann, mit einem Blick auf den Fried­hof, der sich hin­ter uns ent­fern­te, füg­te er hin­zu: »Auch den Esprit, den du besitzt.« (S. 18)

Die Erzähl­wei­se in Furâts Manu­skript scheint dann zunächst ver­wor­ren, denn er springt zwi­schen dem Dasein im Gefäng­nis, Beschrei­bun­gen von Erleb­tem, Träu­men oder Wahn­vor­stel­lun­gen hin und her. Ein­mal beschreibt er die Ver­ge­wal­ti­gung und Demü­ti­gun­gen im Gefäng­nis, ein ande­res Mal erzählt er von sei­ner Oma oder dem Fuß­ball­spiel. Dann wie­der­um schreibt er von Arîdsch und ihren Flirtereien.

Der berühm­te Flash­back – also die Rück­blen­de – kommt hier­bei zum Tra­gen. Der Leser wird bei den Erzäh­lun­gen über Erleb­nis­se immer wie­der in die Ver­gan­gen­heit gewor­fen und dann erneut in das Gefäng­nis zurück­ge­holt. Es ist ähn­lich wie bei einem Pin­sel, der aus dem kal­ten Nass des Was­ser­be­häl­ters genom­men und in leuch­ten­de Far­be ein­ge­taucht wird, womit dann ein bun­tes Bild ent­steht, bevor er wie­der in das kal­te Nass getitscht wird. Aber die leuch­ten­den Far­ben und das kal­te Nass brau­chen ein­an­der. Ohne die­sen Auf­ent­halt im Gefäng­nis könn­te Furât sei­ne Erin­ne­run­gen nicht so gestal­ten, wie er sie letzt­end­lich ins Werk setzt.

Pas­si­ver Wider­stand, Opposition

Die Wirk­lich­keit des ira­ki­schen Lebens ist für Furât eine insze­nier­te Absur­di­tät. In der Schu­le wer­den die Schü­ler ange­hal­ten, der Par­tei bei­zu­tre­ten. An der Uni­ver­si­tät kommt es mehr­fach zu arran­gier­ten Demons­tra­tio­nen für den Füh­rer, wobei Reden gehal­ten wer­den und alle Stu­den­ten applau­die­ren müssen.

Die Groß­mutter nimmt dabei eine wich­ti­ge Rol­le ein. Sie ist die ers­te Figur im Roman (wahr­schein­lich auch in Furâts Leben), die auf komi­sche und zärt­li­che Art pas­si­ven Wider­stand gegen die­ses absur­de Regime aus­übt. Das äußert sie frei­lich nur in Gesprä­chen mit ihrem Enkel:

»Komm, schau dir das an! Da ist doch tat­säch­lich ein Spre­cher vom Innen­mi­nis­te­ri­um auf­ge­tre­ten und hat erklärt, alle Bür­ger müs­sen zur Unter­stüt­zung der Kriegs­an­stren­gun­gen bei­tra­gen – mit ihren Augen! In den Schu­len wür­den Augen­spen­de­zen­tren ein­ge­rich­tet. Alle hät­ten zu gehen und anzu­ste­hen. Das mit dem Gold, das haben wir ja noch ver­stan­den und es gege­ben, und beim Geld haben wir gedacht, na gut. Aber die Augen?! Was soll denn das hei­ßen? Das gab es unser Leb­tag noch nie. Möge Gott sie doch alle in die Höl­le schi­cken! Was sind das bloß für finst­re Zei­ten?« (S. 19f.)

In einem ande­ren Gespräch berich­tet sie über einen Besuch von jeman­dem aus der Orga­ni­sa­ti­on, der zudem beklagt, dass kein gro­ßes Bild des Füh­rers im Haus sei:

»Der hat doch wahr­lich gesagt, wir soll­ten ein grö­ße­res aufhängen.«
»Nur das?«
»Nein. Er hat alle mög­li­chen Infor­ma­tio­nen notiert und wis­sen wol­len, ob hier irgend­wel­che Par­tei­mit­glie­der wohnen.«
»Aber hier woh­nen ja nur du und ich.«
»Ja. Ich hab ihm gesagt, mein Sohn, also genau­er mein Enkel, wäre nicht Mit­glied und ich sowie­so eine alte Frau und ob er denn woll­te, dass ich am Ende mei­ner Tage noch zu Ver­samm­lun­gen ginge.«
»Was hat er denn dar­auf gesagt?«
»Er hat gesagt: ›Hör mal, Tant­chen, ihr müsst auch einen Bau­stein für die­ses Land liefern.‹«
»Nein, wirk­lich! Du hät­test sagen sol­len: ›Alle guten Arbei­ter sind Söh­ne der Revo­lu­ti­on und Baat­his­ten, auch wenn sie nicht Par­tei­mit­glied sind‹, wie das der Gröfaz ausdrückte.«
»Ich hab ihm gesagt, wir wür­den hier schon seit Tau­sen­den von Jah­ren leben, war­um soll­ten wir da einen Bau­stein lie­fern?« (S. 74f.)

Doch scheint eine Per­son noch viel wich­ti­ger für Furâts Oppo­si­ti­on zu sein. Die­se Figur hält er in sei­nen Auf­zeich­nun­gen ver­bor­gen. Ledig­lich der Name fällt an eini­gen weni­gen Stel­len: Ali. Viel­leicht ist er ein guter Freund. Womög­lich will er ihn schüt­zen. Viel­leicht will er aber auch ein­fach Alis Iden­ti­tät nicht mit uns tei­len. Den­noch ist es Ali, der ihn zum Schrei­ben und zu die­sem Schreib­stil bewo­gen hat.

Iʿǧām – Dia­kri­ti­sche Punkte

Der Titel des ara­bi­schen Ori­gi­nals lau­tet إعجام (iʿǧām, lies: iʿdschâm). Iʿǧām sind dia­kri­ti­sche Punk­te, die gesetzt wer­den, um die Kon­so­nan­ten mit glei­cher Grund­form zu unter­schei­den. Die Ent­wick­lung der ara­bi­schen Schrift zeigt, dass die­se Punk­te erst viel spä­ter erfun­den und gesetzt wur­den. Heu­te wer­den sie als Teil des Buch­sta­bens betrachtet.

Sinan Antoon lässt sei­nen Furât mit die­sen dia­kri­ti­schen Punk­ten spie­len, sodass der Genos­se Talâl Ach­mad die­se Auf­zeich­nun­gen erst ent­zif­fern muss. Wie schwie­rig das ist, ver­deut­licht Fähn­d­rich in sei­ner Vor­be­mer­kung mit einem guten Bei­spiel. Die Grund­form ٮٮٮ bei­spiels­wei­se erhält beim Set­zen der Punk­te unter­schied­li­che Bedeu­tun­gen: بيت (bayt) für Haus, بنت (bint) für Mäd­chen, Toch­ter, نبت (nabt) für Pflan­ze, ثبت (ṯabt) für fest, stand­haft oder (ṯabat) für zuver­läs­sig, glaub­wür­dig und Lis­te, Ver­zeich­nis, usw. Als Ara­bisch­leh­rer weiß ich, wie schwer es man­chen fällt, die Posi­ti­on der Punk­te und Zei­chen zu verinnerlichen.

Mit eben­die­sen Punk­ten spielt Furât. Ein­mal lässt er sie weg. Ein ande­res Mal setzt er einen Punkt, wo kei­ner hin­ge­hört. Und manch­mal ersetzt er Buch­sta­ben, die sich ähn­lich sehen. Dadurch gibt er den Wör­tern eine ande­re Bedeu­tung. So ver­tauscht er das ء ham­za mit dem ع ʿayn, und aus dem قائد ʾid (Füh­rer) wird der قاعد ʿid (untä­tig, faul; Leu­te die nicht in den Krieg zie­hen; Frau, die infol­ge ihres Alters nicht mehr gebärt).

Ver­hält­nis von Spra­che und Macht

Tri­umph­bo­gen, Schwer­ter des Sie­ges, Bagdad

Im Manu­skript spielt Furât mit der Spra­che. Es ist ein gefähr­li­ches Spiel, denn das ira­ki­sche Regime will auch die Spra­che beherr­schen. Die­ses Ver­hält­nis von Spra­che und Macht zieht sich durch den gan­zen Roman.

Dabei ist das Ver­hält­nis die­ser bei­den Gebil­de ein weit­aus älte­res Pro­blem in der ara­bisch­spra­chi­gen Welt. Das Hoch­ara­bi­sche – als Sakral­spra­che – ver­sucht seit jeher die gespro­che­ne Spra­che zu kne­beln, zu knech­ten und zu unter­drü­cken. Aber auch der Ein­fluss der star­ren Hoch­spra­che auf die Lite­ra­tur (beson­ders auf die Dich­tung) erschwert einen krea­ti­ven Schaf­fens­pro­zess. Das ist ein Grund, wes­halb eine Grup­pe ira­ki­scher Dich­ter die Frei­en Ver­se ins Leben geru­fen und gestal­tet hat. Sie woll­ten die Dich­tung (und damit die Spra­che) von ihren Fes­seln befreien.

Ver­ros­ten die Stif­te und Lip­pen etwa nicht Jahr um Jahr, seit­dem sie mit der (klas­si­schen) Metho­de in Berüh­rung gekom­men sind? Haben sich unse­re Ohren etwa nicht dar­an gewöhnt, und unse­re Lip­pen sie nicht stän­dig wie­der­holt, und unse­re Stif­te sie nicht zer­kaut, bis sie sie aus­ge­spien und sich erbro­chen haben? Seit Jahr­hun­der­ten beschrei­ben wir unse­re Emo­tio­nen auf die­se Art und Wei­se, sodass sie (die Metho­de) kei­nen Geschmack und kei­ne Far­be mehr besitzt. Das Leben schritt vor­an. Die Bil­der, Far­ben und Gefüh­le haben sich ver­än­dert. Trotz­dem ist unse­re Dich­tung ein Abbild der alten Zeit. […] Wir ver­ges­sen, dass die Spra­che stirbt, wenn sie nicht mit dem Leben galop­piert. (Al-Malāʾika, Nāzik Ṣādiq: Šaẓāyā wa-ramād. Aṭ-ṭabʿa aṯ-ṯānīya. Bay­rūt: Al-Makt­ab at-tiǧārī li-ṭ-ṭibāʿa wa-t-taw­zīʿ wa-n-našr 1959, S. 7f.)

Befrei­te Dichtersprache

Vie­le Dich­ter fan­den an den Frei­en Ver­sen Gefal­len. Jedoch fand das Sys­tem an den dich­te­ri­schen sowie gesell­schaft­li­chen Ansich­ten vie­ler jener Dich­ter kei­nen Gefal­len. Ein gro­ßer Teil die­ser Poe­ten muss­te ins Exil. Die­ses Miss­ver­hält­nis zwi­schen Spra­che und Dich­tung wird in einem Ver­hör sichtbar:

»Sie sind Dichter?«
»Also, ich schreibe.«
Er lach­te. »War­um so beschei­den, jun­ger Mann?«
Danach ver­ging eine hal­be Minu­te schwe­ren Schwei­gens, bevor er fort­fuhr: »Ich lie­be die Poe­sie. Ich habe auch selbst ein­mal ein Gedicht in der Zei­tung al-Kadis­sî­ja ver­öf­fent­licht. Ich wür­de gern dar­über mit Ihnen plau­dern, aber viel­leicht bin ich zu alt­mo­disch für Sie und Ihres­glei­chen. Ich schrei­be nach altem Mus­ter, wie unse­re gro­ßen Ahnen.« (S. 48)

Sein Ver­neh­mer geht aber noch einen Schritt wei­ter. Spra­che und Dich­tung müs­sen »kon­form« sein:

»Wis­sen Sie«, fuhr er dann fort, »ich betrach­te die­ses The­ma auch vom poli­tisch-ethi­schen, nicht nur vom lite­ra­risch-künst­le­ri­schen Stand­punkt aus. Kul­tur ist ja nicht zu tren­nen von der Wirk­lich­keit. Im Augen­blick befin­den wir uns bei­spiels­wei­se im Kriegs­zu­stand. Wir sind, samt unse­ren Gren­zen, in Gefahr, und jedes krea­ti­ve Schaf­fen muss kon­form sein. Man kann nicht ein­fach über das Meer oder über Sci­ence-Fic­tion schrei­ben. Die Kul­tur von der Wirk­lich­keit zu tren­nen ist rück­schritt­lich und reak­tio­när. Und die­se neu­mo­di­sche Poe­sie von euch, beson­ders das soge­nann­te Pro­sa­ge­dicht, ist ech­ter Bull­shit, ist albern und unsin­nig, nicht mehr und nicht weni­ger. […]« (S. 48f.)

À la Orwell

Die herr­schen­de Ord­nung kon­trol­liert nicht nur den All­tag und das gesam­te Leben, son­dern nimmt auch gewal­ti­gen Ein­fluss auf die Spra­che. In einem Dekret wird bei­spiels­wei­se die öffent­li­che Ver­bren­nung  aller Wör­ter­bü­cher ver­langt, um das Phä­no­men der Zwei­deu­tig­keit auszumerzen:

Zum Schutz der Hei­mat und künf­ti­ger Gene­ra­tio­nen vor dem bösen Ein­fluss der nie­der­träch­ti­gen Fein­de hat der Füh­rer ver­fügt, alle Lexi­ka und Wör­ter­bü­cher zu kon­fis­zie­ren, mit­tels derer der Feind ver­sucht hat, den Samen der Zwie­tracht zu säen. Auf Fes­ten im gan­zen Lan­de wer­den die­se ver­brannt. Unser gro­ßes Volk wird so fei­er­lich die Zügel der ein­zi­gen Bedeu­tung wie­der über­neh­men, die eine Cli­que von gemei­nem Volk an sich zu rei­ßen such­te. Außer­dem hat unser gro­ßer Füh­rer den Innen­mi­nis­ter ange­wie­sen, eine Lis­te mit allen grund­le­gen­den Wör­tern samt ihrer kla­ren Bedeu­tun­gen an alle Mit­bür­ger zu ver­tei­len, so dass jeder Ein­zel­ne von euch über deren Bedeu­tung wachen kann. […] Unter­sagt sind frem­de Spra­chen und loka­le Dia­lek­te, die Sepa­ra­tis­ten und ein­ge­schleus­te Fein­de des Lan­des ermu­ti­gen könn­ten. Aus­ge­nom­men davon bleibt der Dia­lekt des gro­ßen Füh­rers, den das natio­na­le Par­la­ment zu einer Spra­che erklärt hat, weil ihm von Gott beson­de­re Klar­heit und Glanz ver­lie­hen wur­den. (S. 100f.)

Es erin­nert doch sehr an Geor­ge Orwells 1984. Sein Werk taucht an ande­rer Stel­le des Romans noch ein­mal auf. Furât möch­te sei­ne Abschluss­ar­beit dar­über schrei­ben, nur kann er das Buch nicht aus­lei­hen, da es ver­bo­ten ist.

Schwie­rig­keit des Übersetzens

Hart­mut Fähn­d­rich bemüht sich sehr bei sei­ner Über­set­zung. Er hat­te auch wahr­lich kei­ne ein­fa­che Auf­ga­be! Nicht immer kann er die mehr­deu­ti­gen Wör­ter aus dem ara­bi­schen Ori­gi­nal über­neh­men. Er muss im Deut­schen geeig­ne­te Wör­ter fin­den, um eine Mehr­deu­tig­keit zu erzeu­gen. Dabei kann er nicht immer mit den Buch­sta­ben spie­len, son­dern muss mit dem Klang arbei­ten. Hier­bei ist sei­ne Krea­ti­vi­tät gefragt.

Der Gröfaz, als Bezeich­nung für den Füh­rer Sad­dam Hus­sein, ist an sich kein schlech­ter Ein­fall; aller­dings bezwei­fe­le ich, dass jün­ge­re Gene­ra­tio­nen mit die­sem Begriff sofort etwas anfan­gen kön­nen. Der größ­te Feld­herr aller Zei­ten war einst eine Bezeich­nung für Adolf Hit­ler. Das Akro­nym (aus den Anfangs­buch­sta­ben gebil­de­tes Kurz­wort) Gröfaz oder GröFaZ wur­de zum Spott gebraucht. Wie kann man das Akro­nym nun für die Ira­ki­sche Rhap­so­die auf­drö­seln? Fähn­d­rich lässt uns meh­re­re Mög­lich­kei­ten. Der größ­te Füh­rer aller Zei­ten, der größ­te Fatz­ke aller Zei­ten, der größ­te Fäul­nis­keim aller Zei­ten, der größ­te Fau­len­zer aller Zei­ten usw. Mit letz­te­rem kommt er dem ara­bi­schen قاعد ʿid doch sehr nahe. Ziem­lich gelun­gen ist es auch, wenn er aus der Repu­blik die Repup­sik macht. Das gewähl­te natio­na­le Par­la­ment wird zum gepfähl­ten natio­na­len Scharlament.

An eini­gen Stel­len hät­te ich mir per­sön­lich aller­dings mehr Mut sei­tens Fähn­d­rich gewünscht. So zum Bei­spiel wenn Furât erzählt, dass er manch­mal Tex­te poli­ti­scher Gesän­ge verändert:

Haus um Haus, des Füh­rers Besuch – Haus um Haus, der Bür­ger Fluch (S. 16)

Er gibt mit dem Besuch das ara­bi­sche Ori­gi­nal­lied wie­der. Im ara­bi­schen Text von Sinan Antoon steht:

بيت بيت ناچ الشعب، بيت بيت بيت، ولا بيّن بوجهه التعب، بيت بيت بيت (ص ١٤)

Die wört­li­che Über­set­zung lau­tet: »Haus um Haus fick­te er das Volk, Haus um Haus um Haus. In sei­nem Gesicht zeig­te sich kei­ne Ermü­dung, Haus um Haus um Haus.«
Ich weiß nicht, ob sich Fähn­d­rich am Wort »ficken« stör­te, oder ob er ande­res mit sei­ner Ver­harm­lo­sung bezweck­te. Ich hät­te ver­sucht, die­sen der­ben Aus­druck ins Deut­sche zu über­füh­ren. Mit sei­ner Vari­an­te erklärt sich den meis­ten Lesern wohl eher nicht, was dar­an schlimm sein sollte.

Den­noch über­setzt Fähn­d­rich den Roman so, dass er im Deut­schen auch les­bar ist.

Klei­nes Abbild des Iraks

Schluss­end­lich will ich noch ein­mal das Bild des Pin­sels auf­grei­fen. Sinan Antoon ist in sei­ner Ira­ki­schen Rhap­so­die kein Maler; viel­mehr arbei­tet er mit einem Blei­stift und skiz­ziert. Sei­ne Per­so­nen sind sche­men­haft und unvoll­stän­dig – skiz­ziert. Gleich­wohl sind sie lebendig.

In der deut­schen Über­set­zung wer­den die Figu­ren den­je­ni­gen beson­ders leben­dig erschei­nen, die über genü­gend Empa­thie ver­fü­gen oder Erfah­rung mit einem alles über­wa­chen­den Regime haben, die wis­sen, wie es ist, in einem tota­li­tä­ren Staat auf­zu­wach­sen und zu leben. Der Mensch zeigt sich nach außen par­tei- und staats­kon­form. Die eige­ne Mei­nung hält er jedoch zurück. Nur im Fami­li­en- und Freun­des­kreis kann er sich even­tu­ell öff­nen – in einer soge­nann­ten Nischen­ge­sell­schaft.
Im ara­bi­schen Ori­gi­nal wer­den die Figu­ren zusätz­lich durch den geschrie­be­nen Dia­lekt in den Dia­lo­gen leben­dig; ja, sogar authen­tisch. Sinan Antoon durch­bricht den Zwang zur Hoch­spra­che und lässt die Zwei­spra­chig­keit voll­kom­men zu.

Trotz sei­ner Skiz­zen schafft es Sinan Antoon ein klei­nes Abbild des Iraks der acht­zi­ger Jah­re zu ver­mit­teln, des Iraks unter Sad­dam Hus­sein. Er lie­fert einen Ein­druck von einem Leben in Kriegs­ta­gen, einem Leben, das geprägt ist von sinn­lo­sem War­ten, einer rück­sichts­lo­sen Regie­rung und einer gewis­sen Frei­heit, die sich im absur­den ira­ki­schen All­tag zu behaup­ten versucht.

Infor­ma­tio­nen zu den Büchern und Verlagen

Ira­ki­sche Rhapsodie
Ver­lag: Lenos
Gebun­de­ne Aus­ga­be, 133 Sei­ten, 1. Auf­la­ge (Febru­ar 2009), 17,50 €
ISBN-10: 3–85787-402–3
ISBN-13: 978–3‑85787–402‑4

Iʿǧām
Ver­lag: Al-Kamel Ver­lag
Taschen­buch, 127 Sei­ten, 1. Auf­la­ge (2013), 8,00 €