Orwell, Geor­ge: 1984

Nach­dem ich die Ira­ki­sche Rhap­so­die noch ein­mal auf Deutsch gele­sen hat­te, nahm ich mir vor, 1984 von Geor­ge Orwell zu lesen. Das Buch war mir vor­her durch­aus bekannt, jedoch hat­te ich nicht das Bedürf­nis, es in Gän­ze zu lesen. Das habe ich hier­mit nun nach­ge­holt. Ich will es gleich vor­weg­neh­men: Orwell und ich hat­ten kei­nen guten Start.

1984

Cover, Ull­stein Buchverlage

Die Welt ist in drei Staa­ten geteilt: Ozea­ni­en, Eura­si­en und Ost­asi­en. Sie befin­den sich fort­wäh­rend im Krieg mit­ein­an­der. Ozea­ni­en ist der Staat, der den Schau­platz des Romans dar­stellt, und umfasst Nord– und Süd­ame­ri­ka, die bri­ti­schen Inseln, Aus­tra­li­en und das süd­li­che Afri­ka. Ozea­ni­en wird dik­ta­to­risch und tota­li­tär geführt. Der Regie­rungs­ap­pa­rat der Par­tei Ozea­ni­ens ver­teilt sich auf vier gro­ße Minis­te­ri­en: Minis­te­ri­um für Frie­den, Minis­te­ri­um für Lie­be, Minis­te­ri­um für Über­fül­le und Minis­te­ri­um für Wahr­heit. Der Füh­rer der auto­ri­tä­ren Par­tei – der Gro­ße Bru­der – beherrscht Ozea­ni­en. Nur ein klei­ner Teil der Bevöl­ke­rung gehört zur Par­tei, die sich noch ein­mal in die Inne­re und Äuße­re Par­tei auf­teilt. Den größ­ten Bevöl­ke­rungs­teil aller­dings machen die Pro­les aus. Pro­les sind Indus­trie- und Land­ar­bei­ter, die in Armut leben. Die Par­tei kon­trol­liert ihre Bevöl­ke­rung durch die Gedan­ken­po­li­zei. In allen Räu­men befin­den sich zudem Tele­schir­me, die man nicht abstel­len kann. Sie emp­fan­gen und sen­den gleich­zei­tig, sodass jeder unter dau­ern­der Beob­ach­tung steht. Ist ein Par­tei­mit­glied ein­mal des Gedan­ken­ver­bre­chens über­führt, oder besteht auch nur der Ver­dacht, ver­schwin­det es im Minis­te­ri­um für Lie­be. Ozea­ni­en hat noch einen grö­ße­ren Feind: Emma­nu­el Gold­stein. Er ist ein abtrün­ni­ger Par­tei­füh­rer, der angeb­lich mit­hil­fe einer Unter­grund­or­ga­ni­sa­ti­on (Brü­der­schaft) das Regime stür­zen will.

Unter Fol­ter geste­hen sie alles

Die Haupt­fi­gur des Romans ist der neun­und­drei­ßig­jäh­ri­ge Win­s­ton Smith. Er lebt 1984 in Ozea­ni­en, in Lan­de­feld 1 (Eng­land) und zwar in Lon­don. Win­s­ton arbei­tet in der Regis­trier­ab­tei­lung des Minis­te­ri­ums für Wahr­heit. Sei­ne Auf­ga­be dort ist die Anpas­sung alter Zei­tungs­be­rich­te an die gera­de herr­schen­de Par­tei­li­nie. Somit passt er auch das Geschichts­bild an und ver­fälscht es. Aber Smith lehnt das tota­li­tä­re Sys­tem ab. Er beginnt, ein Tage­buch zu schrei­ben, in dem er sei­ne non­kon­for­men Gedan­ken fest­hal­ten will. Im Minis­te­ri­um für Wahr­heit arbei­ten noch zwei wei­te­re Figu­ren, die für Win­s­ton eine prä­gen­de Rol­le spie­len: Julia und O’Brian.

Julia ist eine weit­aus jün­ge­re Frau. Sie wirkt forsch und sys­tem­kon­form. Win­s­ton miss­traut ihr, hält sie sogar für eine Geheim­agen­tin der Gedan­ken­po­li­zei. Irgend­wann lässt sie Win­s­ton heim­li­che eine Lie­bes­bot­schaft zukom­men, sodass sich sein Bild von ihr ändert. Er ent­deckt in Julia einen natür­li­chen Lebens­geist und Sinn für die Rea­li­tät. Es ent­wi­ckelt sich eine inti­me Lie­bes­be­zie­hung, die geheim­ge­hal­ten wer­den muss. Die Par­tei dul­det sol­che Bezie­hun­gen nicht; zumal Win­s­ton (zwar getrennt) noch ver­hei­ra­tet ist.

Mit dem Wachs­tum der Lie­be wächst auch der Wider­stand gegen die Par­tei. Zusam­men mit Julia geht Win­s­ton schließ­lich zu O’Bri­an. Die­ser hat seit jeher eine gewis­se Anzie­hungs­kraft auf Win­s­ton. Er spürt, dass er anders ist, dass er kei­ner von denen ist. Er sieht in ihm einen Ver­bün­de­ten; ja, sogar einen Beschüt­zer. Die­ser Ein­druck wird noch ein­mal ver­stärkt, als sich her­aus­stellt, dass er der Brü­der­schaft ange­hört. Doch die­ser Schein trügt. O’Bri­an gehört unzwei­fel­haft zur Inne­ren Par­tei. Aus sei­nem ver­meint­li­chen Beschüt­zer wird der Fol­te­rer. Win­s­ton und Julia wer­den ver­haf­tet und ins Minis­te­ri­um für Lie­be gebracht. Unter Fol­ter geste­hen sie alles und ver­ra­ten einander.

Macht

Das Ziel der Par­tei in 1984 ist ein­deu­tig Macht. Zur Siche­rung ihrer Macht hat die Par­tei eine unfehl­ba­re Über­wa­chungs­ma­schi­ne­rie entwickelt.

»Ich wer­de Ihnen jetzt die Ant­wort auf mei­ne Fra­ge geben. Sie lau­tet wie folgt: Die Par­tei strebt nur aus eige­nem Inter­es­se nach der Macht. Das Wohl ande­rer inter­es­siert uns nicht; uns inter­es­siert ein­zig die Macht. Weder Reich­tum und Luxus noch lan­ges Leben und Glück: nur Macht, rei­ne Macht. […]. (S. 315f.)

Win­s­ton unter­stützt die­se Par­tei sogar durch sei­ne eige­ne Arbeit. Das Ziel der Par­tei ist die Zer­stö­rung von Iden­ti­tät und Indi­vi­dua­li­tät. Das kann nur durch Macht und durch die Zer­stö­rung der Geschich­te geschehen:

»Wir sind die Pries­ter der Macht«, sag­te er. »Gott ist Macht. Doch für Sie ist Macht im Moment noch nicht mehr als ein Wort. Es ist an der Zeit, daß Sie eine Vor­stel­lung davon bekom­men, was Macht bedeu­tet. Als ers­tes müs­sen Sie sich klar­ma­chen, daß Macht kol­lek­tiv ist. Das Indi­vi­du­um besitzt nur dann Macht, wenn es auf­hört, ein Indi­vi­du­um zu sein. Sie ken­nen die Par­tei­pa­ro­le: ›Frei­heit ist Skla­ve­rei‹. Ist Ihnen schon ein­mal die Idee gekom­men, daß man sie auch umkeh­ren kann? Skla­ve­rei ist Frei­heit. Allein – frei – geht der Mensch immer zugrun­de. Das muß so sein, denn jeder Mensch ist zum Ster­ben ver­ur­teilt, und das ist die größ­te Schwä­che. Doch wenn er sich voll­stän­dig, total unter­wer­fen, sei­ner Iden­ti­tät ent­flie­hen, in der Par­tei auf­ge­hen kann, so daß er die Par­tei ist, dann ist er all­mäch­tig und unsterb­lich. Das zwei­te, was Sie sich klar­ma­chen müs­sen, ist, daß Macht meint: Macht über Men­schen. Über den Kör­per – aber vor allem über den Geist. Macht über die Mate­rie – über die äuße­re Rea­li­tät, wie Sie sagen wür­den – ist nicht wich­tig. Unse­re Kon­trol­le über die Mate­rie ist bereits abso­lut.« (S. 317)

Per­ver­si­on des Menschen

Wie in vie­len dik­ta­to­risch und tota­li­tär geführ­ten Sys­te­men zeigt sich eine grau­sa­me Will­kür, die geprägt ist von Angst, Demü­ti­gung, Fol­ter und Hass.

»Genau. Indem er ihn lei­den läßt. Gehor­sam reicht nicht. Wenn er nicht lei­det, wie kann man da sicher sein, daß er unse­rem Wil­len gehorcht und nicht sei­nem eige­nen? Macht bedeu­tet, Schmerz und Demü­ti­gun­gen zufü­gen zu kön­nen. Macht bedeu­tet, den mensch­li­chen Geist zer­pflü­cken und dann nach eige­nem Gut­dün­ken in neu­er Gestalt wie­der zusam­men­set­zen zu kön­nen. Sehen Sie jetzt all­mäh­lich, was für eine Art von Welt wir erschaf­fen? Sie ist das genaue Gegen­teil der törich­ten, hedo­nis­ti­schen Uto­pien, die den alten Refor­men vor­schweb­ten. Eine Welt der Furcht, des Ver­rats und der Fol­ter, eine Welt des Tre­tens und Getre­ten­wer­dens, eine Welt, die mit fort­schrei­ten­der Höher­ent­wick­lung nicht weni­ger gna­den­los, son­dern immer noch gna­den­lo­ser wer­den wird. Fort­schritt in unse­rer Welt wird ein Fort­schritt hin zu mehr Schmer­zen sein. (S. 320)

Es zeigt sich eine bes­tia­li­sche Per­ver­si­on des Men­schen und des Men­schen­bil­des. Dabei sind Opfer und Täter völ­lig ent­mensch­licht; wäh­rend der eine ent­mensch­licht, wird der ande­re entmenschlicht.

»Und ver­ges­sen Sie nicht, daß es ewig so sein wird. Das Gesicht, auf das man tre­ten kann, wird es immer geben. Den Ket­zer, den Feind der Gesell­schaft wird es immer geben, damit er immer wie­der nie­der­ge­wor­fen und gede­mü­tigt wer­den kann. […]« (S. 321)

Macht und Spra­che – Neusprech

Um ihre Macht noch wei­ter aus­zu­deh­nen, schafft die Par­tei eine neue Spra­che: Neu­sprech. Das unmit­tel­ba­re Ziel von Neu­sprech ist die Redu­zie­rung der eng­li­schen Spra­che auf nur ein paar hun­dert Wör­ter. Die­se Wör­ter haben ledig­lich zweck­mä­ßi­ge und sehr eng gefass­te Bedeu­tun­gen. Es erfin­det neue Wör­ter, merzt eine gro­ße Anzahl von alten Wör­tern aus und streift in man­chen Fäl­len eini­ge Bedeu­tun­gen von alten Wör­tern ab.

»Wir geben der Spra­che ihre end­gül­ti­ge Gestalt – die Gestalt, die sie haben wird, wenn alle nur noch Neu­sprech reden. Wenn wir damit fer­tig sind, dann wer­den Leu­te wie du sie noch mal ganz von vorn ler­nen müs­sen. Du denkst sicher, daß unse­re Haupt­ar­beit dar­in besteht, neue Wör­ter zu erfin­den. Nicht die Spur! Wir ver­nich­ten Wör­ter – mas­sen­haft, zu Hun­der­ten, täg­lich. Wir redu­zie­ren die Spra­che bis aufs Ske­lett.« (S. 65) 

Das Haupt­ziel aller­dings ist es, Unstim­mig­kei­ten und Mehr­deu­tig­kei­ten zu besei­ti­gen. Das macht es buch­stäb­lich undenk­bar, sich selbst aus­zu­drü­cken. Neu­sprech begrenzt das Denken.

»Begreifst du denn nicht, daß Neu­sprech nur ein Ziel hat, näm­lich den Gedan­ken­spiel­raum ein­zu­en­gen? Zu guter Letzt wer­den wir Gedan­ken­de­lik­te buch­stäb­lich unmög­lich machen, weil es kei­ne Wör­ter mehr geben wird, um sie aus­zu­drü­cken.« (S. 66f.)

Doch die­se neue Spra­che bewirkt noch mehr. Selbst die Lite­ra­tur soll ihr Opfer wer­den. Es erin­nert mich an die Ver­än­de­run­gen, die man an bestimm­ten Kin­der­bü­chern vor­ge­nom­men hat.

»Die gesam­te Lite­ra­tur der Ver­gan­gen­heit wird ver­nich­tet wor­den sein. Chau­cer, Shake­speare, Mil­ton, Byron wer­den nur noch in Neu­sprech­fas­sun­gen exis­tie­ren, und zwar nicht bloß in ver­wan­del­ter Gestalt, son­dern als Gegen­teil des­sen, was sie ein­mal waren.« (S. 67)

Er hät­te mich fast verloren

Orwell glie­dert sei­nen Roman in drei Haupt­tei­le, die wie­der­um meh­re­re Kapi­tel ent­hal­ten. Die­se drei Haupt­tei­le bil­den drei Ver­laufs­pha­sen der Hand­lung. Im ers­ten Teil führt er den Leser in die Hand­lung ein und schafft dadurch einen Rah­men. Der zwei­te Teil beschäf­tigt sich mit dem Lie­bes­ver­hält­nis und des­sen Fol­gen. Er beschreibt, wie es zur Auf­leh­nung und zum Wider­stand kommt, und endet mit der Gefan­gen­nah­me von Win­s­ton und Julia. Der drit­te und letz­te Teil erzählt, wie es durch Anwen­dung von Fol­ter zur Umer­zie­hung kommt, und wie Win­s­ton letzt­end­lich kapi­tu­liert, wie er letzt­end­lich zer­stört und sei­ner Wesen­heit beraubt wird und sich anpasst.

Dabei hät­te mich Orwell in sei­nem ers­ten Teil fast ver­lo­ren. Er ist lang­wei­lig. Die über­frach­ten­den Beschrei­bun­gen zie­hen sich hin. Mir fie­len stel­len­wei­se die Augen zu, da es so ein­schlä­fernd war. Ich woll­te auf­hö­ren. Trotz alle­dem dach­te ich mir, dass es doch einen Grund geben müs­se, wes­halb die­ser Roman so hoch­ge­ju­belt wird. Also fuhr ich fort. Ab dem zwei­ten Teil wird der Roman 1984 anders. Bes­ser. Span­nen­der. Natür­lich, denn es geht um Lie­be, und Lie­be besticht nun­mal durch Taten und weni­ger durch lang­wei­li­ge Beschrei­bun­gen. Im zwei­ten Teil des Romans arbei­tet Orwell gekonnt. Sein Per­spek­tiv­wech­sel (Gold­steins Buch) ist reiz­voll. Aber Orwell schafft es nicht, die­se Span­nung mit in den drit­ten Teil zu neh­men. Der drit­te Teil beschreibt die Fol­te­run­gen und das Umer­zie­hen. Doch mir fehlt das Leid. Ja, es ist alles ganz furcht­bar und schreck­lich, es gibt Schlä­ge, Strom­stö­ße, Trit­te, Dro­gen, Win­s­ton hat Schmer­zen. Orwell hät­te aller­dings sei­ne über­mä­ßi­gen natu­ra­lis­ti­schen Beschrei­bun­gen aus dem ers­ten Teil etwas ver­rin­gern und im drit­ten Teil anwen­den kön­nen. Doch stellt sich die berech­tig­te Fra­ge, ob es über­haupt für ihn und sei­ne Leser rele­vant gewe­sen wäre. Zur Zer­stö­rung der Iden­ti­tät und Indi­vi­dua­li­tät passt auch kein per­sön­li­ches Leid. Den­noch kann er mich nicht überzeugen.

Der ›Pro­phet‹ Orwell

Nein, es ist kein Buch, das unter­hal­ten soll. Es soll nach­denk­lich stim­men und in gewis­ser Wei­se auch die Augen öff­nen. Für die Leser im und nach dem Jah­re 1949 muss es ein Hor­ror­sze­na­rio gewe­sen sein, viel­leicht sogar eine unglaub­wür­di­ge Dys­to­pie. Und doch haben sich vie­le die­ser Sze­nen bewahr­hei­tet. Und heu­te? Wie schaut man heu­te auf die­sen Roman? Eini­ge wer­den in Orwell einen Pro­phe­ten sehen, der all die wahr gewor­de­nen Schil­de­run­gen vor­aus­ge­sagt hat. Ein gewis­ser Teil wird ihn für Ver­schwö­rungs­theo­rien dank­bar gebrau­chen. Ande­re schau­en aner­ken­nend auf das Werk und hof­fen, dass gewis­se Din­ge über­wun­den wur­den und ande­re nie Wirk­lich­keit werden.

The­ma­tisch ist die­ser Roman zwei­fels­frei erst­klas­sig und er gehört des­we­gen unbe­streit­bar auf jede Lite­ra­tur­lis­te. Erzäh­le­risch und sprach­lich war ich an vie­len Stel­len jedoch ent­täuscht. Es pas­siert wenig, und Orwell ver­liert sich zu oft in Beschreibungen.

Infor­ma­tio­nen zum Buch und Verlag

Ver­lag: Ull­stein Buchverlage
Taschen­buch, 384 Sei­ten, 40. Auf­la­ge (2017), 12,00 €
ISBN-10: 3–548-23410–0
ISBN-13: 978–3‑548–23410‑6