Sat­touf, Riad: Der Ara­ber von mor­gen, Band 3

Der Ara­ber von mor­gen. Wer soll die­ser Ara­ber sein? Gibt es den über­haupt? Eine retro­spek­ti­ve Ant­wort zeich­net der fran­zö­si­sche Comic­zeich­ner und Autor Riad Sat­touf in sei­ner mehr­bän­di­gen Auto­biogra­phic Novel.

Band 3: Eine Kind­heit im Nahen Osten (1985–1987)

Cover, Knaus Verlag

Riad Sat­touf ist ein Kind mit lan­gen pla­tin­blon­den Haa­ren. Sei­ne Eltern haben sich zu Stu­di­en­zei­ten in Frank­reich ken­nen­ge­lernt. Sei­ne Mut­ter Clé­men­ti­ne ist Fran­zö­sin, sein Vater Abdel-Razak ist Syrer.

Der drit­te Band spielt in den Jah­ren 1985–1987. Im Jah­re 1985 ist Riad sie­ben Jah­re alt. Der Vater Abdel-Razak ver­kracht sich mit sei­ner Mut­ter, da er sei­ne Kin­der nicht beschnei­den las­sen will.

Die Mut­ter Clé­men­ti­ne geht mit ihren bei­den Söh­nen nach Frank­reich, um dort ihr drit­tes Kind auf die Welt zu brin­gen. Riad muss dann in Frank­reich die Schu­le besu­chen. Dort wer­den – im Gegen­satz zu Syri­en – die Kin­der nicht geschla­gen, denn »schon der Ton­fall reicht«. Aller­dings ist das Essen geschmack­los und fad. Dann erblickt Fadi, der drit­te Sohn, das Licht der Welt.

Zurück in Syri­en wer­den dann doch alle Kin­der beschnit­ten. Das Buch endet mit der neu­en Anstel­lung des Vaters – sie wer­den nach Sau­di-Ara­bi­en ziehen.

Geni­tal­fra­gen und Judenfeindlichkeit

Sat­touf zeich­net eini­ge her­vor­ra­gen­de (manch­mal doch recht pla­ka­ti­ve) Sze­nen, die nicht nur von kul­tur­ver­mit­teln­dem Cha­rak­ter sind, son­dern auch eine kul­tur­re­flek­tie­ren­de Wir­kung haben.

In einer Sze­ne ist Riad mit sei­nen Cou­sins unter­wegs. Beim gemein­sa­men Pin­keln stel­len die Cou­sins fest, dass Riad nicht beschnit­ten ist, und sie fin­den das natür­lich komisch. Zu Hau­se fragt Riad sei­nen Vater, war­um sein »Pim­mel« so komisch sei, und er erfährt, dass er eben nicht beschnit­ten sei: »Das ist eine Ope­ra­ti­on, bei der das Ende der Haut am Pim­mel ent­fernt wird. Kei­ne gro­ße Sache. Bringt nichts … Die Mus­li­me machen das so, aber egal … Muss man nicht mit­ma­chen …«1 Zudem erfährt Riad von ihm, dass der Pim­mel das Wich­tigs­te sei, was ein Mann habe, dass er ihn nie anfas­sen las­sen dür­fe und dass er gut auf ihn auf­pas­sen müsse.

Trotz der Ver­ge­wis­se­rung, dass mit sei­nem Geni­tal alles in Ord­nung ist, muss Riad von sei­nen Cou­sins dar­auf erfah­ren, dass er einen »Juden­pim­mel« habe, denn Juden wären nicht beschnit­ten. Und sie fra­gen ihn, ob er sich sicher sei, dass sei­ne Mut­ter nicht doch Jüdin ist.

Hund vs. Katze

Beson­ders gelun­gen ist eine Sze­ne in Frank­reich, wor­in Fan­chon – eine alte fran­zö­si­sche Bäue­rin – Kat­zen­jun­gen vor­bei­bringt. Riads Groß­mutter lehnt aber ab und begrün­det es damit, dass ihr Hun­de lie­ber sei­en. Fan­chon geht wie­der, legt den Sack mit den Kätz­chen auf eine Müll­ton­ne und haut sie tot.

Wer die vor­he­ri­gen Bän­de kennt, wird sich erin­nern, dass es eine ähn­li­che Sze­ne im ers­ten Band gibt. Dar­in beob­ach­tet Riads Mut­ter in Syri­en, wie Kin­der einen Hund jagen, ihn quä­len und ihn letzt­lich auf­spie­ßen und köpfen.

Es ist viel­leicht ein unan­ge­neh­mer Spie­gel, den Sat­touf sei­nen euro­päi­schen oder nicht-ara­bi­schen Lesern vor­hält. Ich kann mir vor­stel­len, wie vie­le inner­lich vor Empö­rung auf­schrei­en, wenn sie die Sze­ne mit dem klei­nen Hund lesen: ›Die­se Bar­ba­ren!‹ Und ich stel­le mir vor, wie sie dann die Sze­ne mit den Kat­zen­jun­gen über­le­sen (Cat Ladies und Gen­tle­men natür­lich aus­ge­schlos­sen). Denn es ist bis heu­te auf Bau­ern­hö­fen nicht unüb­lich – den­noch straf­bar –, Kat­zen­jun­gen durch einen Schlag auf den Kopf oder durch Erträn­ken zu töten; wahr­schein­lich um die Anzahl der Kat­zen einzudämmen.

Wie die Väter, so die Söhne?

Doch mehr als die­se Offen­sicht­lich­kei­ten spricht mich die Figur des Vaters Abdel-Razak an. Die­ser stammt aus ein­fa­chen Ver­hält­nis­sen, stu­dier­te und pro­mo­vier­te in Frank­reich und kehr­te erst nach 17 Jah­ren zurück nach Syri­en, um dem Mili­tär­dienst zu entgehen.

Das Sta­ti­sche und das Dynamische

Der syrisch-liba­ne­si­sche Dich­ter und Intel­lek­tu­el­le Alî Ahmad Saîd – der unter sei­nem Künst­ler­na­men Ado­nis schreibt – unter­sucht in sei­ner drei­bän­di­gen (lite­ra­tur­kri­ti­schen) Stu­die ath-Thâ­bit wa-l-muta­haw­wil (Das Sta­ti­sche und das Dyna­mi­sche. Eine Unter­su­chung des Krea­ti­ven und des Imi­ta­ti­ven bei den Ara­bern), war­um und auf wel­che Art die ara­bisch-isla­mi­sche Kul­tur einen »Nie­der­gang« erlebt habe. Die kul­tur­for­men­den Kräf­te sei­en hier­bei das Sta­ti­sche (thâ­bit) und das Dyna­mi­sche (muta­haw­wil).

Laut Ado­nis sei »das Alte« eine Kraft, wor­aus kul­tu­rel­le Pflich­ten her­vor­ge­hen. Aus die­sen Pflich­ten ent­stün­den wei­te­re gesell­schaft­li­che und see­li­sche Pflich­ten. Das bedeu­te, dass die Per­sön­lich­keit des Ara­bers eine Sache sei­ner Kul­tur sei, die sich um die Ver­gan­gen­heit dre­hen müs­se. Er neh­me die moder­nen kul­tu­rel­len Errun­gen­schaf­ten an, aber leh­ne den intel­lek­tu­el­len Aus­gangs­punkt ab, der sie her­vor­brach­te. Die wah­re Neu­heit lie­ge aber in der schöp­fe­ri­schen Fähig­keit und nicht in den Errun­gen­schaf­ten selbst. Er leh­ne folg­lich die wah­re Neu­heit ab, d. h. das Zwei­feln, das Erpro­ben, die unein­ge­schränk­te und toll­küh­ne Frei­heit, zu for­schen, das Ver­bor­ge­ne zu ent­de­cken und es anzu­neh­men.2

Ob das nun typisch ara­bisch ist, dar­über läst sich strei­ten. Denn vie­le Aus­sa­gen in sei­ner Stu­die tref­fen wohl auf alle Tra­di­tio­na­lis­ten zu. Ado­nis kommt jeden­falls zu dem Schluss, dass die bei­den Strö­mun­gen seit jeher in die ent­ge­gen­ge­setz­te Rich­tung lie­fen und nie­mals inein­an­der flos­sen. Das Sta­ti­sche wur­ze­le in der isla­mi­schen Welt­sicht und habe die gesam­te ara­bisch-isla­mi­sche Kul­tur durch­drun­gen und geformt, sodass das Dyna­mi­sche gebro­chen wer­de. In der Lite­ra­tur setzt er daher das Sta­ti­sche (also den Tra­di­tio­na­lis­mus) mit dem Imi­ta­ti­ven gleich, das sich nicht ver­än­dern kön­ne und daher auf Repe­ti­ti­on fuße. Das Dyna­mi­sche hin­ge­gen sieht er im Libe­ra­lis­mus und in der Innovation.

Rebel­li­on und Blasphemie

In einem ande­ren Werk zur Poe­tik des Ara­bi­schen macht Ado­nis eine eben­so inter­es­san­te Bemer­kung zu sei­nen Wahr­neh­mun­gen. Er spricht von einer Art Kri­se, die fast zu einem natür­li­chen Phä­no­men gewor­den sei. Die­se Kri­se beschreibt er als einen Wunsch in der ara­bi­schen Gesell­schaft, die Reli­gi­on von jeder Form der Auto­ri­tät zu tren­nen. Jedoch bestehe ein wider­sprüch­li­ches Bestre­ben der Auto­ri­tä­ten, die Reli­gi­on als Grund­la­ge des ara­bi­schen Lebens zu betrach­ten; denn das Sys­tem der Reli­gi­on sei nahe­zu per­fekt, sofern es gött­lich offen­bart wer­de, und stel­le daher das Schlüs­sel­ele­ment für die Gewähr­leis­tung der Sicher­heit und Sta­bi­li­tät des poli­ti­schen Regimes dar. Aus die­sem Grund sei­en Poli­tik und Reli­gi­on in einer fast orga­ni­schen Bezie­hung mit­ein­an­der ver­bun­den. Es sei daher leicht zu ver­ste­hen, war­um die Frei­heit, Fra­gen zu stel­len – ins­be­son­de­re in streng reli­giö­sen Ange­le­gen­hei­ten – unter einem Regime, das sich auf die­se Ver­bin­dung stützt, fast nicht exis­tie­re. In der Pra­xis wer­de Poli­tik zu einer Art Unter­wer­fung und zu einem Akt des Glau­bens an das bestehen­de Regime. Alles ande­re ent­spre­che einer Rebel­li­on und Blas­phe­mie.3

Die­ner der Toten

Ein etwas kunst­vol­le­res und bel­le­tris­ti­sches Bild zeich­net der liba­ne­si­sche Dich­ter Kha­lil Gibran (Khalîl Dschi­brân). In einer Kurz­ge­schich­te lässt er den Prot­ago­nis­ten eine Begeg­nung mit dem »Gott der Ver­rück­ten« haben. In die­sem Dia­log sagt der Gott an einer Stelle:

Die Prü­fung der Söh­ne besteht in den Gaben der Väter. Wer sich nicht selbst der Geschen­ke sei­ner Väter und Vor­vä­ter ent­zieht, bleibt der Die­ner der Toten, bis er selbst einer von den Toten wird.4

In Sat­toufs Gra­phic Novel ver­kör­pert der Vater Abdel-Razak auf ganz tref­fen­de Wei­se die­se Bil­der, die Ado­nis und Kha­lil Gibran zeich­nen. Er wirkt in sei­ner Kul­tur gefan­gen. Er hat aus­bre­chen wol­len; das zeigt sich im ers­ten Band ganz deut­lich, wenn er davon erzählt, war­um er Frank­reich liebt: »Frank­reich ist groß­ar­tig, jeder hier kann machen, was er will! Stu­die­ren wird sogar bezahlt! Und Radio Mon­te-Car­lo …«5 Oder wenn er etwa von sei­nen Vor­stel­lun­gen vom Nahen Osten berich­tet: »Ich wür­de alles ändern bei den Ara­bern. Sie müss­ten mit der Fröm­me­lei auf­hö­ren, sich bil­den und in die Moder­ne ein­tre­ten … Ich wäre ein guter Prä­si­dent.«6

Und doch ist ihm der Aus­bruch nie gelun­gen. Sein Wunsch nach einer ›Refor­mie­rung der Ara­ber‹ weicht dem Sek­tie­rer­tum und der Füh­rer­an­be­tung. Dabei ist es für ihn als Pan­ara­bis­ten völ­lig egal, wel­chen ara­bi­schen Füh­rer er anhim­melt. Mal ist es Sad­dam Hus­sein: »Die­se Schii­ten, ein Graus! Sad­dam Hus­sein dage­gen wird Gro­ßes leis­ten!«;7 und mal ist es Gad­da­fi: »Schau, Riad! Das ist Gad­da­fi. Ein gro­ßer ara­bi­scher Prä­si­dent!«8

Bruch mit der Mut­ter, Bruch mit der Religion

Beson­ders leben­dig und aus­drucks­voll ist Abdel-Razaks ver­such­ter Bruch mit sei­ner Mut­ter und folg­lich mit der Reli­gi­on. Die Sze­ne wirkt zunächst banal. Abdel-Razak sagt sei­ner Mut­ter, dass er sei­ne Kin­der nicht beschnei­den las­sen wol­le. Die Ant­wort sei­ner Mut­ter erzürnt ihn so sehr, dass sich aus ihm eine schier enor­me ange­stau­te Wut (die Sze­ne wird farb­lich in einem sehr kräf­ti­gen Rot gestal­tet) ent­lädt, die zum vor­läu­fi­gen Bruch führt.

Wäh­rend aber sei­ne Frau mit den Kin­dern in Frank­reich ist, nähern sich Abdel-Razak und sei­ne Mut­ter wie­der an. Sie ver­zeiht ihm. Er macht ihr Zuge­städ­nis­se und ver­kün­det die­se bei der Rück­kehr sei­ner Frau und sei­nen nun drei Söh­nen: »Jeden­falls wird es uns in den kom­men­den Mona­ten viel BESSER gehen! Und ihr, Jungs … ihr wer­det alle drei beschnit­ten! Na, zufrie­den? Dann wer­det ihr den­sel­ben Pim­mel haben wie euer Papa!«9

Abdel-Razak hat durch­aus die Chan­ce gehabt, der ›Ara­ber von mor­gen‹ zu wer­den. Aber schein­bar bleibt er ein ›Die­ner der Toten‹.

Selbst­er­zäh­len­de und poin­tier­te Zeichnungen

Es fällt mir jedoch schwer, Sat­toufs Gra­phic Novel aus lite­ra­tur­kri­ti­scher Sicht zu beur­tei­len. Ich mag Sat­toufs Stil! Sei­ne Zeich­nun­gen sind selbst­er­zäh­lend und poin­tiert. Als Leser einer Gra­phic Novel will ich hin­ge­gen nicht nur von Zeich­nun­gen bespaßt wer­den, son­dern möch­te auch eine Geschich­te, die mich mit­reißt. Hier hat mich Sat­touf aber an vie­len Stel­len (auch in den vor­he­ri­gen Bän­den) verloren.

Zwar macht der Cliff­han­ger neu­gie­rig, doch wird wahr­schein­lich nicht viel Unvor­her­seh­ba­res gesche­hen. Sau­di-Ara­bi­en schreit förm­lich nach einem »reli­giö­sen Erwa­chen« und einem Auf­ein­an­der­pral­len zwei­er diver­gie­ren­der Ansich­ten, Hal­tun­gen, Ideo­lo­gien. Zumin­dest kann ich mir nicht vor­stel­len, dass sich die fran­zö­si­sche Mut­ter wohl­füh­len wird.

Gleich­wohl weiß ich den Wert sei­nes Wer­kes zu schät­zen. Ich bin mir sicher, dass es eine gro­ße Leser­schaft gibt, die in die­ser Gra­phic Novel viel Neu­es ent­de­cken wird sowie eini­ge Aha-Erleb­nis­se und Mög­lich­kei­ten zum Lachen haben kann. Ich hin­ge­gen fra­ge mich, ob und inwie­weit Sat­touf es schafft, die »Kehrt­wen­de« ein­zu­läu­ten. Denn nach den bis­he­ri­gen Bän­den müss­te aus dem klei­nen Riad ein aggres­si­ver, anti­se­mi­ti­scher und pan­ara­bisti­scher Sprü­che­klop­fer wer­den – folgt man den sozi­al- und kul­tur­de­ter­mi­nis­ti­schen Stim­men. Das spiel­te natür­lich allen Wut­bür­gern und Ret­tern des Abend­lan­des in die Hän­de. Aber: Sat­touf ist ja nun nicht so gewor­den. Er muss daher – um es mit Ado­nis’ Wor­ten zu sagen – irgend­wann das Sta­ti­sche durch­bro­chen haben, um dem Dyna­mi­schen Raum zu geben. Und auf die­ses und die­sen Moment bin ich gespannt!

Infor­ma­tio­nen zum Buch und zum Verlag

Ver­lag: Knaus Ver­lag
Paper­back, Klap­pen­bro­schur, 152 Sei­ten, 19,99 €
ISBN-13: 978–3‑8135–0766‑9

Das Buch wur­de mir freund­li­cher­wei­se vom Blog­ger­por­tal und dem Knaus Ver­lag zur Ver­fü­gung gestellt. Vie­len Dank!

  1. Sat­touf, S. 60.
  2. Wie­der­ge­ge­ben aus: Adūnīs: Aṯ-Ṯābit wa-l-mutaḥaw­wil. Baḥṯ fī al-ibdāʿ wa-l-itti­bāʿ ʿinda al-ʿArab. Bd. i. 7. Auf­la­ge. Bei­rut: Dār as-sāqī, 1994, S. 62.
  3. Wie­der­ge­ge­ben aus: Adūnīs: Aš-Šiʿrīya al-ʿara­bīya. 2. Auf­la­ge. Bei­rut: Dār al-ādāb, 1989, S. 89f.
  4. Über­setzt aus: Ǧibrān, Ḫalīl Ǧibrān: Al-ʿAwāṣif. 2. Auf­la­ge. Kai­ro: Dār al-ʿArab li-l-bus­tānī, 1986, S. 6.
  5. Sat­touf, Riad: Der Ara­ber von mor­gen. Eine Kind­heit im Nahen Osten (1978–1984). Bd. i. Mün­chen: Albrecht Knaus Ver­lag, 2015, S. 9.
  6. Ebd.
  7. Ebd., S. 10.
  8. Ebd., S. 12.
  9. Sat­touf, S. 137.