Geis­mar, Daph­ne: Unsicht­ba­re Jahre

Was wür­dest du tun, wenn du plötz­lich ein altes Foto­al­bum im Kel­ler fin­dest? Ein Album vol­ler Bil­der von Men­schen, die du nicht kennst, aber die irgend­wie mit dir ver­wandt sind? Men­schen, die in einer ande­ren Zeit und einem ande­ren Land gelebt haben, aber deren Schick­sal dich berührt? Genau das ist der Autorin Daph­ne Geis­mar pas­siert. Sie ent­deck­te ein Album mit Fotos ihrer jüdi­schen Fami­lie aus den Nie­der­lan­den, die wäh­rend des Zwei­ten Welt­kriegs ver­folgt und ermor­det wur­de. Aus die­ser Ent­de­ckung ent­stand das Buch Unsicht­ba­re Jah­re: Die Geschich­te einer nie­der­län­di­schen Fami­lie wäh­rend des Holo­caust, das mehr als eine Fami­li­en­ge­schich­te ist. Es ist eine Spu­ren­su­che nach dem Leben und dem Lei­den einer Gene­ra­ti­on, die fast aus­ge­löscht wurde.

Daph­ne Geismar

Daph­ne Geis­mar ist eine Gra­fik­de­si­gne­rin und Autorin, die Bücher und Web­sites für Muse­en und Stif­tun­gen gestal­tet. Sie hat an der Yale Uni­ver­si­ty stu­diert und an ver­schie­de­nen ame­ri­ka­ni­schen Uni­ver­si­tä­ten unter­rich­tet. Zu ihren bekann­tes­ten Wer­ken gehört nun das Buch Invi­si­ble Years, das im Novem­ber 2022 auf Deutsch erschien und von Ire­ne Eisen­hut über­setzt wur­de. Geis­mar rekon­stru­iert dar­in anhand von Brie­fen, Fotos, Doku­men­ten und Erin­ne­run­gen ihrer Ver­wand­ten das Leben ihrer Groß­el­tern, Eltern, Onkel, Tan­ten und Cou­sins, die sich auf ver­schie­de­ne Wei­se dem Ter­ror der Nazis wider­setz­ten und ver­such­ten, ihre jüdi­sche Iden­ti­tät zu bewahren.

Unsicht­ba­re Jahre

Cover, btb Verlag

Nach der Inva­si­on der Nie­der­lan­de durch die Deut­schen im Mai 1940 wur­den jüdi­sche Ein­woh­ner, ein­schließ­lich ein­hei­mi­scher Juden und Flücht­lin­gen aus Deutsch­land und Öster­reich, zuneh­mend dis­kri­mi­niert und von der rest­li­chen Bevöl­ke­rung iso­liert. Im April 1942 wur­de allen Juden über sechs Jah­ren befoh­len, einen gel­ben Stern zu tra­gen. Im Juli wur­den eini­ge jüdi­sche Grup­pen auf­ge­for­dert, sich für einen Trans­port in “Arbeits­la­ger” im Osten zu mel­den und dabei Wes­ter­bork (Durch­gangs­la­ger Wes­ter­bork) zu pas­sie­ren. Obwohl nie­mand genau wuss­te, was in die­sen Lagern geschah, beschlos­sen Tau­sen­de von Juden, der Depor­ta­ti­on zu ent­kom­men und such­ten Ver­ste­cke für sich und ihre Kin­der. Sie alle muss­ten untertauchen.

Geis­mars Buch ent­hält Erin­ne­run­gen an die Qua­len der Eltern, die ihre Kin­der ver­las­sen muss­ten, ohne zu wis­sen, ob und wann sie sie wie­der­se­hen wür­den. Es zeigt auch die Ver­wir­rung und Angst der Kin­der, die von ihren Eltern getrennt waren, und die Schwie­rig­kei­ten, die sie im Ver­steck hat­ten. Eini­ge der ille­ga­len Pfle­ge­el­tern waren sehr freund­lich, ande­re weni­ger. Die Grün­de, die Unter­ge­tauch­ten auf­zu­neh­men, waren unter­schied­lich: Eini­ge han­del­ten aus Nächs­ten­lie­be oder gar Mit­ge­fühl, ande­re aus all­ge­mei­nem Anstand, Feind­se­lig­keit gegen­über den Besat­zern oder finan­zi­el­ler Ent­schä­di­gung. Doch immer war da die Angst und Gefahr, bei einer Raz­zia, einer Poli­zei­kon­trol­le oder durch Ver­rat ent­deckt zu wer­den. Sie waren gezwun­gen, oft von einem Ver­steck zum ande­ren zu wechseln.

Ein Teil der Fami­lie über­leb­te. Aber die Über­le­ben­den muss­ten vie­le Ver­wand­te und Freun­de betrau­ern, die die Nazis ermor­det haben. Die Erfah­run­gen im Ver­steck präg­ten ihr wei­te­res Leben nach dem Krieg in ver­schie­de­nen Län­dern. Auf Sei­te 193 sind die Namen von 55 Fami­li­en­mit­glie­dern auf­ge­führt, die wäh­rend des Holo­causts ums Leben kamen. Die meis­ten von ihnen wur­den in Ausch­witz und Sobi­bor ermor­det. Die Lis­te ihrer Namen ist ein Zeug­nis des Grauens.

Stim­mi­ge Erzählung

Das Buch ist letzt­lich eine Repor­ta­ge. Dar­in jedoch liegt nicht sei­ne Qua­li­tät. Eine Repor­ta­ge kann aus der blo­ßen Anein­an­der­rei­hung von Erin­ne­run­gen, Brie­fen, Tage­buch­ein­trä­gen, Doku­men­ten und Inter­views bestehen – und ist trotz­dem nicht gut. Geis­mar gelingt es aber, alles mit­ein­an­der zu ver­we­ben, sodass es sich fort­lau­fend lesen lässt, ohne dass die indi­vi­du­el­len Stim­men ver­lo­ren gehen. Es erin­nert ein wenig an die Zwei­te-Welt­kriegs-Dokus mit Zeit­zeu­gen, wor­in Inter­view­sequen­zen zu einer stim­mi­gen Erzäh­lung zusam­men­ge­schnit­ten werden.

Daph­ne Geis­mar hat mit Unsicht­ba­re Jah­re ein groß­ar­ti­ges Buch zusam­men­ge­stellt, das uns, die wir die­se schreck­li­chen Erfah­run­gen nie machen muss­ten, einen Ein­druck davon ver­mit­telt, wie sie waren.


Infor­ma­tio­nen zum Buch und zum Verlag

Ver­lag: btb Verlag
Hard­co­ver, Papp­band, 256 Sei­ten, 26,00 €
ISBN: 978–3‑442–75988‑0

Das Buch wur­de mir freund­li­cher­wei­se vom Blog­ger­por­tal und dem btb Ver­lag zur Ver­fü­gung gestellt. Vie­len Dank!

Infor­ma­tio­nen zum Titelbild

Aus: Geis­mar, Daph­ne: Unsicht­ba­re Jah­re. Die Geschich­te einer nie­der­län­di­schen Fami­lie wäh­rend des Holo­caust. Mün­chen: btb Ver­lag, 2022, S. 1.