Énard, Mathi­as: Kompass

Der Roman Kom­pass des fran­zö­si­schen Ori­en­ta­lis­ten und Schrift­stel­lers Mathi­as Énard ist seit der dies­jäh­ri­gen Leip­zi­ger Buch­mes­se in aller Mun­de. Erschie­nen ist er aller­dings bereits im August 2016. Es ist ein angeb­li­ches »Buch der Stun­de«, das neben dem Ori­en­ta­lis­mus auch den Bei­trag des Ori­ents zur west­li­chen Kul­tur und Iden­ti­tät the­ma­ti­siert. Ich habe die­ses schwa­che Werk erst durch den Medi­en­rum­mel wahr­ge­nom­men und mir nun zulei­de getan.

Kom­pass

Cover, Han­ser Berlin

Franz Rit­ter, ein öster­rei­chi­scher Musik­wis­sen­schaft­ler, erlebt eine schlaf­lo­se Nacht in sei­ner Woh­nung in Wien. Sein Arzt hat dem Hypo­chon­der zuvor eine ver­meint­lich töd­li­che Dia­gno­se gestellt. Nun führt er sich sein Leben noch ein­mal vor Augen. Sei­ne gro­ße Lie­be – die fran­zö­si­sche Ori­en­ta­lis­tin Sarah – spielt dabei eine gewich­ti­ge Rolle.

Franz und Sarah tref­fen sich immer wie­der auf For­schungs­rei­sen und wis­sen­schaft­li­chen Kon­fe­ren­zen. Sei­ne Annä­he­rungs­ver­su­che blei­ben jedoch stets erfolg­los. Sarah sieht in ihm einen guten Freund, mit dem sie die­sel­be Lei­den­schaft für den Ori­ent teilt. Gegen Ende des Romans lan­den bei­de in Tehe­ran letzt­lich doch im Bett. Es bleibt eine ein­ma­li­ge Sache. Sie hei­ra­tet spä­ter einen Syrer (einen Musi­ker), sie tren­nen sich aber wie­der, und Sarah sucht dann ihre Flucht in der Rast­lo­sig­keit. Sie ist stän­dig unter­wegs. Es zieht sie wei­ter in den Osten, und sie lan­det beim Bud­dhis­mus. Der Roman endet mit der Hoff­nung, und even­tu­ell fin­det Sarah doch zu Franz.

Schwa­feln­der Fachidiot

Und doch lässt sich der Inhalt mit weni­ger Wor­ten zusam­men­fas­sen. Ein Opi­um rau­chen­der Nerd – oder ein schwa­feln­der Fach­idi­ot – schwa­dro­niert sie­ben Stun­den einer schlaf­lo­sen Nacht lang von sei­nem ster­bens­lang­wei­li­gen Aka­de­mi­ker­da­sein und von sei­ner uner­füll­ten Lie­be. Die­ses auf­dring­li­che Gere­de wird immer wie­der durch belang­lo­se Hand­lun­gen in der Gegen­wart unter­bro­chen. Mal muss er auf’s Klo, dann sucht er sei­ne Bril­le, mal kramt er in Papier her­um, dann liest er E‑Mails, wor­auf­hin er wie­der aus der Erin­ne­rung erzählt.

Dabei schmeißt er mit Namen aus der Geschich­te, Musik, Lite­ra­tur und Wis­sen­schaft um sich: Mozart, Beet­ho­ven, Schu­bert, Liszt, Ber­li­oz, Bizet, Rim­s­ki-Kor­sa­kov, Débus­sy, Bar­tók, Hin­dem­inth, Schön­berg, Szy­ma­now­ski, Hafis, Omar Khay­yam, Dik al-Dschinn, Usa­ma Ibn Mun­qidh, Faris al-Schi­dyaq, Rim­baud, Bal­zac, Hei­ne, Hugo, Goe­the, Proust, Napo­lé­on Bona­par­te, Joseph von Ham­mer-Purg­stall, Alo­is Musil, Edward Said, Ignaz Gold­zi­her, T. E. Law­rence, Pater Anto­nin Jaus­sen, Auda Abu Tayi, Enno Litt­mann, Fried­rich Rück­ert, Muham­mad Asad, Jane Dig­by, Anne Blunt, Hes­ter Stanho­pe, Mar­ga d’An­du­rain, Anne­ma­rie Schwar­zen­bach, Nietz­sche, Lou Salo­mé, Fried­rich Carl Andre­as Eri­ka und Klaus Mann, Tho­mas Mann und so wei­ter. Alle Namen sind Schall und Rauch. Man ver­gisst sie wie­der. Aber auch sei­ne bereis­ten Orte schil­dert er: Istan­bul, Alep­po, Damas­kus, Pal­my­ra, Tehe­ran. Die Bil­der, die er aus der Erin­ne­rung von den Orten zeich­net, las­sen nur einen weh­mü­ti­gen Blick auf die gegen­wär­ti­gen Anbli­cke zu. Für die­se wich­tig­tue­ri­sche Zur­schau­stel­lung sei­ner Bil­dung wird er selbst­ver­ständ­lich von den Kri­ti­ken gelobt.

Die­ses Par­fum stinkt!

Aber was stört mich an die­sem Buch? Mich stört alles an dem Buch. Vor allem ärgert es mich aber, dass mir die­ser bil­li­ge Fusel als edler Trop­fen ver­kauft wur­de. Die Kri­ti­ken spre­chen von gewoll­ter Hand­lungs­ar­mut und kos­mo­po­li­ti­schem Thema.

Ver­zei­hung! Ich kann das nicht ganz ver­ste­hen. Ein grau­sig lang­wei­li­ges Buch, aber durch den Stoff immer­hin wich­tig. Das heißt zu Deutsch, das Par­fum stinkt, aber es ist sehr gut. Das glaub’ ich nicht! Ent­we­der stinkt ein Par­fum, oder es riecht gut. (Mar­cel Reich-Rani­cki im Lite­ra­ri­schen Quar­tett, Fol­ge 27)

Und die­ses Par­fum stinkt! Ich glau­be den Kri­ti­kern, die das Buch in den Him­mel heben, kein ein­zi­ges Wort. Von lite­ra­ri­schen Meis­ter­wer­ken, poe­ti­schen Hym­nen und ande­ren Super­la­ti­ven ist die Rede. Man muss mit die­sen Kri­ti­kern schon Mit­leid haben, da sie augen­schein­lich noch nie ein Meis­ter­werk gele­sen haben.

Mit Bil­dung vollgestopft

Wenn jedoch alles erbärm­lich und miss­lun­gen ist, sagt man eben, das The­ma sei wich­tig. Ihn dafür zu loben, liegt mir fern, denn The­men gibt es wie Sand am Meer. Die lite­ra­ri­sche Umset­zung ist doch ent­schei­dend. Mir scheint, Énard hat­te einen Zet­tel­kas­ten, den hat er umge­kippt – nun, lie­ber Leser, bas­tel dir aus dem Cha­os etwas zusam­men. Die­ses Buch ist dilet­tan­ten­haft geschrie­ben. Es gibt durch­aus ein­zel­ne, weni­ge Epi­so­den, die gelun­gen sind, aber der Groß­teil ist und bleibt talent­los geschrie­ben. Dann heißt es über­all, man müs­se auch ein­mal kämp­fen, Pau­sen ein­le­gen, um gewis­se Din­ge nach­zu­le­sen … Und dafür ist Lite­ra­tur da? Um Got­tes willen!

Der Roman ist mit Bil­dung voll­ge­stopft und setzt eine gewis­se Bil­dung bei sei­nen Lesern vor­aus. Wir Ori­en­ta­lis­ten hal­ten uns ja zumeist für sehr wich­tig. Aber wozu soll man eigent­lich ein Buch über Ori­en­ta­lis­tik lesen? Wer möch­te in einem Roman die Ori­en­ta­lis­tik, das Ori­en­ta­lis­mus­pro­blem, kul­tur­wis­sen­schaft­li­che Fra­gen zu Iden­ti­tät und Älteri­tät ken­nen­ler­nen? Ich will es nicht, denn dafür gibt es genug Fach­li­te­ra­tur. Man kann es durch­aus ver­su­chen, all das in einen Roman zu quet­schen. Ent­we­der ist man ein begab­ter Erzäh­ler und es gelingt, oder man mutet sich doch zu viel zu und es miss­lingt. Mathi­as Énard ist damit jeden­falls kläg­lich gescheitert.

Ori­ent und Okzi­dent sind nicht zu trennen

Ja doch, es ist alles ganz wich­tig und rich­tig. Ori­en­ta­lis­ten sind ver­klär­te Träu­mer, das Bild des Ori­ents ist ein west­li­ches Bild, den­noch übt der Ori­ent eine Fas­zi­na­ti­on aus, Ori­ent und Okzi­dent sind nicht zu tren­nen, der Ori­ent hat­te und hat Ein­fluss auf die west­li­che Kul­tur und Iden­ti­tät, der Ein­fluss des Wes­tens hat enor­me Kon­se­quen­zen auf die gegen­wär­ti­gen Situa­tio­nen und so wei­ter und so fort. Doch scheint mir das zu ein­sei­tig, was aus die­sem Buch her­aus­ge­holt wird. Man spricht »dem Ori­ent« durch die­se Lese­wei­se eine eige­ne Ver­ant­wor­tung ab. Die­se undif­fe­ren­zier­te Betrach­tungs­wei­se scheint mir – bei aller Abnei­gung gegen­über sei­nem Roman – nicht sein eigent­li­ches The­ma zu sein. Es sind anek­do­ti­sche Aus­flü­ge in den Ori­ent und zum Ori­en­ta­lis­mus, die er ver­geb­lich ver­sucht, mit den The­men Lie­be, Melan­cho­lie, Sehn­sucht und der Suche nach dem Sinn zu verknüpfen.

Kitsch bleibt Kitsch

Nein, ich habe  jede ein­zel­ne Sei­te bereut. Das Lesen war qual­voll. Obwohl ich ihm zugu­te hal­ten muss, dass er in mir eine (und nur eine!) Fra­ge geweckt hat: Wonach rie­chen eigent­lich Schmet­ter­lin­ge? Ansons­ten ist an dem Roman nichts span­nend. Ich will nicht wis­sen, wel­che Dia­gno­se der Arzt gestellt hat. Ich hät­te mir eher gewünscht, dass Franz Rit­ter plötz­lich tot umfällt, da sein Geschwal­le uner­träg­lich ist.

Auch die­se jäm­mer­li­che Lie­bes­ge­schich­te trägt kei­ner­lei Span­nung. Énard hat ein Kitsch-Motiv genom­men und gar nichts dar­aus gemacht. Der Kitsch bleibt Kitsch und Schund. Es ist von vorn­her­ein klar, dass dar­aus nichts wird. Wie bei allen moder­nen Lie­be­lei­en kommt es zum One-Night-Stand, danach folgt nichts mehr. Énard kann doch nicht allen Erns­tes glau­ben, dass mich die trost­lo­sen Lie­bes­ge­schich­ten von Aka­de­mi­kern fesseln?

Hät­te Énard als Sche­he­ra­za­de dem König Schah­ri­yâr die­se miss­ra­te­nen Geschich­ten auf­ge­tischt, hät­te sie der König gleich nach der ers­ten Nacht hin­rich­ten las­sen. Der Ver­gleich mit den Geschich­ten aus tau­send­und­ein Näch­ten hinkt daher gewal­tig. Natür­lich, die Struk­tur legt die­sen Ver­gleich nahe, doch die Qua­li­tät ist eine ganz ande­re. Aber auch die Ver­bin­dung zu Lai­la und Madschnun ist hoch gegrif­fen. Der jun­ge Mann Qais ist von sei­ner uner­füll­ten Lie­be zu Lai­la so beses­sen, dass er ver­rückt (maǧnūn) wird. Die Eltern des Mäd­chens stim­men einer Hei­rat der bei­den nicht zu, ver­hei­ra­ten Lai­la mit einem ande­ren, sodass sich Qais in die Ein­sam­keit der Wüs­te zurück­zieht und mit wil­den Tie­ren zusam­men­lebt und letzt­lich stirbt. Gewiss, Franz Rit­ter zieht sich auch in die Ein­sam­keit der Wis­sen­schaft zurück und hat sei­ne fünf Sin­ne nicht bei­sam­men – mit dem ein­zi­gen Unter­schied, dass Qais fürch­ter­lich lei­det und Rit­ter nur jammert.

Lite­ra­risch wertlos

Geschenkt! Énard hat ein­fach die Gunst der Stun­de genutzt und einen Roman zu einer Zeit ver­öf­fent­licht, in der er die Auf­merk­sam­keit auf sich zieht. Das mache ich ihm nicht zum Vor­wurf, denn Schrift­stel­ler wol­len auch nur Geld ver­die­nen. Zuletzt wur­de er mit dem Leip­zi­ger Buch­preis für Euro­päi­sche Ver­stän­di­gung aus­ge­zeich­net, was ihn noch ein­mal ins Ram­pen­licht der Öffent­lich­keit geholt hat.

An ihm ist aller­dings ein begab­ter Essay­ist ver­lo­ren gegan­gen. Hät­te er ein ande­res Gen­re gewählt, fie­le mei­ne Rezen­si­on sicher­lich anders aus. Ich muss ihn aber als Roman­cier bewer­ten. Nichts­des­to­trotz wird der Autor mit sei­nem Buch nach die­sem Hype wie­der in Ver­ges­sen­heit gera­ten, da der Roman lite­ra­risch wert­los ist.

Infor­ma­tio­nen zum Buch und Verlag

Ver­lag: Han­ser Ber­lin
Gebun­de­ne Aus­ga­be, 432 Sei­ten, 10. Auf­la­ge (August 2016), 25,00 € 
ISBN-10: 3–446-25315–7
ISBN-13: 978–3‑446–25315‑5