Gegenwärtig scheint die Frage nach der besten Staatsform und ihrer Ausführung wieder bedeutsam zu sein. Demokratisch gewählte Staatsoberhäupter regieren wirklichkeitsfern und nahezu despotisch. Andere Volksvertreter verbreiten unter dem Deckmantel der Demokratie vermeintlich überholte Anschauungen und Auffassungen. Irgendwo sitzen auch noch Tyrannen. Ein Blick lohnt sich daher in einen großartigen Roman des ägyptischen Autors Nagib Mahfuz: die Reise des Ibn Fattuma. Die Geschichte seiner Reise ist eine Geschichte von Umwegen.
Die Reise
Kindil ist der Sohn von Mohammed al-Innabi und Fattuma, die als Siebzehnjährige den achtzigjährigen Mohammed geheiratet hat. Seine älteren Geschwister aus einer früheren Ehe nennen ihren Bruder nur ibn Fattuma – Sohn der Fattuma –, um klar zu zeigen, dass keinerlei Beziehungen zwischen ihnen vorherrschen. Nach dem Tod seines Vaters wächst er allein mit seiner Mutter auf und genießt eine traditionelle islamische Ausbildung daheim durch einen Scheich. Später verliebt sich Kindil in ein Mädchen. Wie es der Brauch will, hält er beim Vater des Mädchens um die Hand an. Er stimmt der Verlobung zu. Jedoch sieht der dritte Kammerherr des Sultans eines Tages das Mädchen und beschließt, es zu seiner vierten Frau zu machen. Der Vater kann nicht ablehnen. Die Verlobung wird aufgelöst. Gebrochenen Herzens beschließt Kindil, aufzubrechen und die Länder zu bereisen, von denen ihm sein Scheich berichtet hat.
Maschrik
Das letztendliche Ziel seiner Reise soll das Gaballand sein, »das größte Wunder unter all den Ländern, das Vollkommenste, was es an Vollkommenem gibt.« Das erste Land, das er bereist, ist das Maschrikland. Es liegt laut Namen irgendwo im Osten oder im Land des Sonnenaufganges. Es ist ein Land mit einer matriarchalischen Stammesgesellschaft, die nackt herumläuft und den Mond anbetet. Er verliebt sich in das Mädchen Arusa. Um sie zu heiraten, muss er sie jedoch von ihrem Gebieter kaufen, denn alle Menschen im Maschrikland gehören einem Herrscher. Doch sie wird nicht freigegeben, sodass Kindil seine Arusa weder freikaufen noch heiraten kann. Allerdings kann er ihren Vater bezahlen, solange er Arusa »benutzen« möchte. Das tut er auch und er wird mehrfacher Vater. Jedoch wird er für seine muslimische Erziehung der Kinder aus Maschrik verbannt.
Haira
Kindil Ibn Fattuma muss das Land verlassen und macht sich auf ins Hairaland. Es ist ein Polizeistaat, in dem Feudalherren über die Menschen bestimmen. Der eigentliche Herrscher genießt göttliches Ansehen. Haira will einen Krieg gegen Maschrik führen, um die Menschen dort zu »befreien«. So kommt es, dass sie die Menschen des Maschriklandes gefangen nehmen und versklaven. Ibn Fattuma kauft seine Arusa in einer Sklavenauktion, aber wieder zieht seine Braut den Blick eines einflussreichen Beraters auf sich, und er wird zu lebenslanger Haft verurteilt, weil er sich gegen den Berater ausspricht.
Halba
Nach zwanzig Jahren wird Ibn Fattuma (im Zuge eines anderen Krieges) freigelassen. Er bricht wieder auf und reist nach Halba. Dieses Land ist ein Land voller Freiheit, Reichtum und einer hochentwickelten Zivilisation. Er nimmt sich eine andere Frau und wird abermals Vater. Aber die anfängliche Faszination schwindet bald und macht der Angst vor Armut, Verbrechen und dem Mangel an sozialem Mitgefühl Platz. Das kapitalistische System scheint ein System ohne moralische Grundlagen zu sein. Es führt zudem Krieg gegen Länder, um sie zu »befreien« und zu »zivilisieren«. Das Haira- und das Maschrikland werden annektiert. Er begegnet Arusa, die auch wieder verheiratet ist. Ihm kommt der Grund seiner Reise wieder in den Sinn. Die Begegnung mit Arusa lässt alte Gefühle von Neuem auflodern, und er beschließt, seine Reise nach einem Jahr erneut aufzunehmen. Sobald er das Gaballand erreicht habe, würde er zu seiner Frau und seinen Kindern zurückkehren.
Aman
Von Halba geht er ins Amanland. Die Menschen nennen es das Land der »totalen Gerechtigkeit«. Es gibt weder Reich noch Arm, und niemand ist ohne Arbeit. Doch hier weicht die Bewunderung rasch dem Schrecken, als Ibn Fattuma erfährt, dass die »individuelle Freiheit« im Gegenzug für die »totale Gerechtigkeit« durch den Tod strafbar ist. Ibn Fattuma darf nur zehn Tage im Land bleiben. Kurz bevor er sich wieder auf den Weg macht, bricht erneut ein Krieg aus.
Ghurub
Auf der Flucht aus dem Amanland kommt Ibn Fattuma im Ghurubland an. Es scheint eine vorübergehende Wohnstätte ohne Parallele in der realen Welt zu sein, in der Emigranten aus allen Teilen der Welt zusammenkommen und einer spirituellen Ausbildung unterzogen werden, um sich für die letzte Reise ins Gaballand vorzubereiten. Sie leben von dem, das ihnen die Natur bietet. Äußerlichkeiten haben keinerlei Wert. Allerdings erreicht der Krieg auch das Ghurubland.
Mahfuz – Im Gedächtnis bewahrt
Nagib Mahfuz wurde 1911 in Kairo geboren und gehört zu den bedeutendsten arabischsprachigen Autoren der Gegenwart. Zeit seines Lebens verfasste er mehr als vierzig Romane, Kurzgeschichten und Novellen. 1988 erhielt er den Nobelpreis für Literatur und ist bis heute der einzige arabischsprachige Schriftsteller, der diesen Preis je erhalten hat. Nach Erhalt des Literaturnobelpreises wurde über ihn in einer Fatwa das Todesurteil verhängt, sodass er 1994 bei einem Attentat durch religiöse Fanatiker schwer verletzt wurde. Er starb 2006 im Alter von 94 Jahren in Kairo nach einer kurzen Krankheit.
Mahfuz wurde in eine ereignisreiche Zeit hineingeboren, die auch sein ganzes Leben lang ereignisreich bleiben sollte: Britische Herrschaft, Erster Weltkrieg, Sultanat Ägypten, Königreich Ägypten, Zweiter Weltkrieg, Sturz des Königs durch Nagib und Nasser, Republik Ägypten, Krieg gegen Israel, Sadat, Frieden mit Israel, Sturz Sadats, Machtergreifung Mubaraks, ägyptischer Nationalismus, Panarabismus, arabischer Sozialismus, sowjetische Einflüsse, westliche Einflüsse usw. Es wundert daher kaum, dass seine erfolgreichsten Werke auch stets ein Abbild seines derzeitigen Ägyptens sind.
1983 veröffentlichte er die Reise des Ibn Fattuma. Die Anhäufung der Erfahrungen mit verschiedenen Ideologien und geschichtlichen Ereignissen musste Mahfuz scheinbar in irgendeiner Form Ausdruck verleihen. Dies geschieht in Form eines allegorischen Romans. Seither hat er an Aktualität nicht verloren.
Ibn Fattuma – Ibn Battuta
Die Hauptfigur des Romans hat ihren Namen von einem historischen und literarischen Vorbild erhalten: Ibn Battuta. Ob Nagib Mahfuz seiner Figur damit einen Gefallen getan hat, darüber lässt sich streiten.
Ibn Battuta (ابن بطوطة ibn Baṭṭūṭa) war ein muslimischer Forschungsreisender des vierzehnten Jahrhunderts. Er gilt als der Marco Polo des Orients, der seiner Nachwelt seine Reiseberichte hinterlassen hat. Laut diesen Berichten reiste er von Marokko über Mekka und Indien bis nach China. Auch das christliche Konstantinopel war ein Ort auf seiner Reiseroute. Selbst auf den Malediven soll er gewesen sein. Die moderne Forschung geht heutigentags jedoch davon aus, dass der gesamte Bericht erstunken und erlogen ist und somit eine Erfindung sein dürfte.
Sprechende Namen
Es ist unbestreitbar eine Fähigkeit von Nagib Mahfuz, den Figuren und Orten in seinen Geschichten und Romanen sprechende Name zu geben, die in der deutschen Übersetzung leider verloren gehen müssen.
Der Maschrik (مشرق mašriq) als Ort des Sonnenaufgangs ist die Dämmerung der menschlichen Zivilisation. Haira (حيرة ḥayra) ist die Verirrung. Der König wird nicht nur als Gott verehrt, der Held des Romans wird zudem Opfer des politischen Wirrwarrs. Halba (حلبة ḥalba) ist die Arena und entspricht der Kampfarena des modernen Lebens und der westlichen Welt, in der sich jeder (trotz Freiheit und Gerechtigkeit) selbst der Nächste ist. Aman (أمان ʾamān) ist die Sicherheit und weist auf die totale Überwachung hin. Mit Ghurub (غروب ġurūb), dem Sonnenuntergang, wird nicht nur das Ende der Geschichte eingeleitet, sondern auch das Endstadium der Menschheit, bevor sie bereit ist, in der perfekten Welt des Gaballandes zu leben. Gabal (جبل ǧabal) ist der Berg oder das Gebirge, und Mahfouz deutet damit auf den Gipfel des Erreichbaren hin.
Aber auch die Namen der Figuren sind mit Bedacht gewählt. Kindil (قنديل qindīl) ist ein Wort für die Lampe oder den Leuchter und birgt die Bedeutung des Lichtes in sich. Es ist daher augenscheinlich, dass er auf seiner Reise mehr entdecken wird als lediglich die Länder. Halima (حليمة ḥalīma) bedeutet sanftmütig, doch ist die Nähe zum Traum und zur Utopie (حُلم ḥulm) nicht von der Hand zu weisen. Das Schicksal steckt von vornherein im Namen: Er wird diese Frau nicht bekommen. Auch bei Arusa (عروسة ʿarūsa) findet sich bereits ein wertvoller Hinweis in ihrem Namen, denn die Bedeutung der Braut bleibt ihr im Verlauf des gesamten Romans erhalten. Auch wenn Kindil wieder heiratet, so liebt er seine Frau weiterhin. Dass die Gefühle nicht erloschen sind, wird bei der Begegnung der beiden nach mehr als zwanzig Jahren sichtbar.
Raserei durch die Ideologien
Mahfuz gibt seinem Roman eine klare Struktur vor, indem er mit dem Sonnenaufgang beginnt und mit dem Sonnenuntergang endet. In Kürze gibt er seiner Leserschaft einen Abriss der gesellschaftlichen Menschwerdung und verköstigt sie mit einer delikaten Raserei durch die Ideologien. Und mir scheint, dass er mit diesem Roman versucht hat, (als späteres Opfer eines islamistischen Anschlages) seinen eigenen Frieden mit dem Islam zu machen, indem er die Religion von ihrer Draufsicht auf die innere Betrachtung lenkt. Er wirft seinen muslimischen Helden recht stiefmütterlich in die Wirren der Welt: Menschen, die nackt herumlaufen, Homosexualität, emanzipierte Frauen, Alkohol, Religionsverbot, Atheismus usw. Mit den Entgegnungen seines Helden spiegelt Mahfuz die wahrscheinliche Bestürzung und Fassungslosigkeit seiner arabischen Leserschaft wider; durch die weitere Wechselbeziehung der Figuren stellt er allerdings klar, dass auch er zu den Liberalen gehört.
Das Ghurubland bildet den Abschluss und somit die Quintessenz seines Romans. In ihm finden sich mystische Gedanken, die ganz klar dem Sufismus – der islamischen Mystik – entnommen sind. Letztlich, so will mir scheinen, ist die Bewertung politischer Systeme laut Mahfuz völlig bedeutungs- und wesenlos, denn solange der Mensch nach dem besten System fragt, ohne dabei das eigene Selbst und die eigene Verantwortung zu beachten und zu hinterfragen, solange wird es das beste System auch nicht geben. Daher werden wir es auch nie aus dem Roman erfahren, weil das Manuskript, auf dessen Grundlage der Roman erzählt wird, am Fuße des Berges des Gaballandes aufhört. Die allegorische Reise durch die historische Zeit von der Morgendämmerung (Maschrik) der menschlichen Gesellschaft bis zum kommunistischen Staat (Aman) muss in der Gegenwart aufhören und uns im Ungewissen über die Zukunft lassen, denn wir haben das Ende (Ghurub) noch nicht erreicht.
Lob an die Übersetzerin
Die Reise des Ibn Fattuma ist ein sehr kurzweiliges Lesevergnügen – sowohl im arabischen Original als auch in der deutschen Übersetzung. Auf etwa 192 Seiten erstreckt sich eine Geschichte, die trotz ihrer Kürze so viel Tiefe enthält. Im gleichen Atemzug muss ich der bereits verstorbenen Übersetzerin – Doris Kilian – ein großes Lob aussprechen. Mit ihrer Sprache hat sie es geschafft, die Leichtfüßigkeit, mit der sich Mahfuz sprachlich in seinem Roman bewegt, ins Deutsche zu übertragen. Sieht man über die Namen hinweg, hat man nicht zwingend das Gefühl, eine Übersetzung zu lesen.
Informationen zum Buch und Verlag
Die deutsche Übersetzung erschien 2004 erstmals im Unionsverlag. Die gebundene Ausgabe scheint nicht mehr lieferbar zu sein. Die neue Auflage von 2016 der Taschenbuchausgabe ist für 11,95€ erhältlich.