Ein ganzes Leben von Robert Seethaler habe ich eigentlich nur aufgrund des Covers gekauft. Es ist nicht zu überladen und verkitscht und hat zudem eine nette Schriftart. Der Text auf der Buchrückseite war eher ausladend. Dennoch schlug ich zu. Vom Autor hatte ich bis dahin noch nichts gehört. Ich konnte daher unvoreingenommen und ohne große Erwartungen mit dem Lesen beginnen. Und trotz dessen, dass ich keine Erwartungen hatte, habe ich das Buch mit einem Gefühl des Überraschtseins beendet. Seethaler hat mich überzeugt. Ohne viel Aufwand.
Ein ganzes Leben
Andreas Egger kommt nach dem Tod seiner Mutter mit ungefähr vier Jahren zu ihrem Schwager Hubert Kranzstocker in ein Bergdorf in den Alpen. Dieser nimmt ihn nur widerstrebend und zähneknirschend an. Egger wächst nun bei einem Bauern heran, der ihn mit aller Härte erzieht. Einmal schlägt er so fest zu, dass er dem jungen Egger den Oberschenkelknochen bricht. Seit diesem Tag hat er eine Behinderung und hinkt. Als junger Mann (mit achtzehn Jahren) setzt er sich das erste Mal zur Wehr. Er droht dem Bauern Kranzstocker, dass, wenn er ihn noch einmal schlage, er ihn umbringe. Er muss den Hof verlassen und lebt seitdem allein.
Da er ein kräftiger Mann ist, findet er einige Gelegenheitsjobs und kann sich so viel Geld zusammensparen, um sich mit neunundzwanzig Jahren etwas abseits vom Dorf ein kleines Grundstück zu kaufen und eine Hütte darauf zu bauen. Eines Tages verliebt er sich in die junge Magd Marie. Sie wird die Liebe seines Lebens. Da er die männlichen Pflichten erfüllen und Marie als zukünftige Frau auch versorgen können will, sucht er feste Arbeit bei einer Firma, die die ersten Bergbahnen im Tal baut. Doch sein Glück mit Marie währt nicht ewig, und das Schicksal reißt sie (und ein ungeborenes Kind) ihm durch eine Lawine aus seinem Leben.
Später meldet er sich zum Kriegsdienst und gerät in russische Gefangenschaft, aus der er sechs Jahre nach Kriegsende entlassen wird. Das Leben verändert sich rasend schnell. Neue Technologien erobern die Lande, und zu guter Letzt hält der Tourismus im Tal Einzug. Egger arrangiert sich damit, arbeitet sogar einige Zeit lang als Bergführer. Doch mit dem Alter zieht er sich immer mehr von den Menschen zurück und führt das Leben eines Einsiedlers.
Nicht sprachlich wertlos
In unserer reizüberflutenden Welt tut es (literarisch) auch einmal not, die Einfachheit wiederzuentdecken. Seethaler beschreibt eine einfache Figur und erzählt eine ebenso einfache Geschichte. Das mag einfallslos und inhaltsleer erscheinen. Womöglich. Dennoch schafft es Seethaler, diese schlichte und unscheinbare Geschichte mit seiner Sprache aufzuwerten und zu verfeinern. Man sollte sich allerdings davor hüten, diesen Roman in die Trivialliteratur einzuordnen, auch wenn einiges dafür spräche. An manchen Stellen droht er tatsächlich in Kitsch abzudriften. Aber auch die Erzählweise spräche für die Trivialliteratur. Es scheint häufig wie eine geplauderte (minimalistische) Aufzählung von Mitteilungen – jedoch nicht sprachlich wertlos. Auch die Gefühle wirken häufig nicht authentisch. In meinem Beitrag zu Orwells 1984 habe ich bemängelt, dass das Leiden nicht dargestellt wird. Als Egger seine Frau verliert, hatte ich denselben Eindruck.
»Ich bin gleich da«, sagte er zu sich selbst oder zu Marie oder zu irgendwem, doch im selben Augenblick wusste er, dass ihn niemand mehr hören würde, und als er seinen Oberkörper über den Hügelkamm zog, schluchzte er laut auf. Er kniete im Schnee und überblickte die vom Mond beschienene Fläche, auf der sein Haus gestanden hatte. Er rief den Namen seiner Frau in die Stille hinaus: »Marie! Marie!« (S. 79f)
Die Beerdigung fand unter strahlendem Sonnenschein statt und über der aufgeschütteten Erde brummten die ersten Hummeln. Egger saß auf einem Hocker, krank und starr vor Traurigkeit, und nahm die Beileidsbekundungen entgegen. Er verstand nicht, was die Leute zu ihm sagten, und ihre Hände fühlten sich an wie irgendwelche fremdartigen Dinge, die man ihm reichte. (S. 85)
Andererseits muss man sich fragen, ob Egger zu solchen Gefühlen überhaupt fähig ist oder ob er sich dieser Gefühle eigentlich bewusst sein kann. Sein Charakter lässt es an und für sich nicht zu. Er ist einfach gestrickt, hat seit jeher Probleme mit Worten und spricht nicht gerne. Somit hat Seethaler alles richtig gemacht. Doch die lebhaften Naturbeschreibungen und die leichtfüßige Sprache bestechen in Seethalers Werk.
Ein ganzes Leben ist ein kleines Werk von nur wenigen Seiten. Dennoch lädt es zur Selbstbetrachtung ein und schafft es, auf diesen wenigen Seiten, einen tieferen Gedanken zu vermitteln. Zweifelsfrei ist es ein Roman, der scheinbar nicht in unsere Welt, in unsere Zeit passt. Und genau das macht ihn so gelungen.
Informationen zum Buch und Verlag
Verlag: Goldmann Verlag
Taschenbuch, 192 Seiten, 10. Auflage (Februar 2017), 11,00 €
ISBN-10: 3–442-48291–7
ISBN-13: 978–3‑442–48291‑7
Ursprünglich erschienen in:
Verlag: Hanser Literaturverlage
Gebundene Ausgabe, 160 Seiten, 16. Auflage (2014), 17,90 €
ISBN-10: 3–446-24645–2
ISBN-13: 978–3‑446–24645‑4