Paul Auster tritt sieben Jahre nach seinem letzten Roman pünktlich zu seinem siebzigsten Geburtstag mit seinem Werk 4321 wieder an die Öffentlichkeit. Es ist ein opulentes Buch von 1264 Seiten. Derzeit steht er auf Platz vier der Spiegel Bestsellerliste für Hardcover. Fast durchweg erhält er für dieses Buch im deutschsprachigen Raum positive Kritiken. Nachdem ich es nun gelesen habe, frage ich mich, welches Buch diese Kritiker gelesen haben.
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Das Buch beginnt zunächst mit einer Anekdote, wie ein gewisser Isaac Reznikoff nach seiner Ankunft in Amerika zu seinem Namen Ichabod Ferguson kommt. Diese Anekdote wird zum Schluss des Romans noch einmal aufgegriffen, sodass es den Rahmen und zugleich den Ausgangspunkt der Geschichte bildet. Archibald Isaac Ferguson wird 1947 in New Jersey geboren. Er ist jüdischer Herkunft, wobei die Religion nicht wirklich ausgelebt wird. Diese Hauptfigur schreibt die vier Geschichten (wovon eine seine eigene ist) der weiteren Ferguson-Figuren. Dabei ändern sich die Figuren nicht. Lediglich die Ereignisse, Schicksalsschläge sowie die daraus folgenden Personenkonstellationen und Werdegänge sind verschieden.
Somit lebt er mal in einer wohlhabenden Familie, mal haben es seine Eltern finanziell schwer. Mal bleiben seine Mutter und sein Vater verheiratet, mal stirbt der Vater, mal sind sie geschieden, mal liebt Ferguson Amy und sie ihn, dann wieder wird sie seine Stiefschwester, mal studiert er in Princeton, mal an der Columbia, mal studiert er gar nicht und geht nach Paris. Mal ist Ferguson heterosexuell, mal bisexuell, mal kommt er gar nicht in den Genuss der Sexualität, da er verfrüht stirbt.
Er stirbt, denn die eigentliche Hauptfigur lässt alle ihre drei Figuren nacheinander sterben, sodass nur noch ein Archibald Ferguson übrig bleibt, um die Geschichten der anderen zu schreiben. So teilt sich das Buch in sieben Kapitel mit jeweils vier unterschiedlichen Geschichten auf.
Viel Geschrei und wenig Wolle
Paul Auster packt eine Unzahl an Ideen, Motiven und Stoff in seinen Roman. Er zerplatzt förmlich. Viel Geschrei und wenig Wolle. Je mehr Wort, je minder Werk. Seine Aufteilung des Romans in vier verschiedene Geschichten macht es unabdingbar, ein Lesetagebuch zu führen. Anders ist es nicht möglich, zu wissen, was in Kapitel 3.1 passierte, damit man mit Kapitel 4.1 fortfahren kann. Die drei anderen Geschichten dazwischen stören den Fluss gewaltig.
Was wäre, wenn?
Die zentrale Frage des Romans – und wahrscheinlich eines jeden Menschen – ist die des Zufalls. Was wäre, wenn? Diese Frage stellt sich der Hauptfigur bereits sehr früh. Als er mit sechs Jahren von einem Baum fällt, merkt Ferguson, dass auch alles anders hätte kommen können.
Was für ein interessanter Gedanke, dachte Ferguson: sich vorzustellen, wie für ihn alles anders sein könnte, auch wenn er selbst immer derselbe bliebe. […] Ja, alles war möglich, und nur weil etwas auf eine bestimmte Weise geschah, hieß das noch lange nicht, dass es nicht auch auf eine andere Weise geschehen könnte. Alles könnte anders sein. Die Welt könnte dieselbe Welt sein, und doch wäre sie, wenn er nicht vom Baum gefallen wäre, eine andere Welt für ihn.
An mehreren Stellen taucht dieses Motiv im Roman auf. In zwei verschiedenen Geschichten verdeutlicht Ferguson diese Problemfrage. Mal spricht er mit einem Freund, und fragt ihn, was denn wäre, wenn er einen von zwei Wegen nehmen müsse. Was würde es ihm bringen? Was könnte er verpassen? Mal schreibt er auch selbst eine Geschichte von drei Wegen, auf denen unterschiedliche Dinge passieren. Er lässt seine Figur nacheinander alle drei Wege nehmen, um zu sehen, was letztendlich herauskommt. Auch wenn sich die Verläufe der Geschichten unterscheiden, so bleibt das, was das Schicksal wirklich für ihn vorhersieht, dasselbe. Ferguson schreibt in allen Geschichten. Er und Amy haben in keiner Geschichten eine gemeinsame Zukunft. Das Band zwischen ihm und seiner Mutter ist allen Geschichten untrennbar.
Motive über Motive
Auster spart allerdings nicht mit Motiven. Eines der vielen habe ich bereits besprochen, nämlich das Motiv des Waswärewenns, des Zufalls. Ein weiteres Motiv ist der verlorene Vater, der entweder stirbt oder durch Scheidung aus Fergusons Leben tritt. Aber auch enge und weite Räume bilden Motive: kleine Apartments in der Riesenstadt New York oder die kleine Kammer in Paris oder ein riesiges Haus in einer kleine Vorstadt. Von weitaus größerer Bedeutung sind allerdings die Bedingungen des Schreibens und auch die Metafiktion, also das Buch im Buch oder ein Roman über jemanden, der einen Roman schreibt.
So schön diese Motive in der Vorstellung auch sind, sie werden nicht immer gut bedient. Daran kann auch der Aufbau des Romans liegen, wie am Beispiel des ersten Males zu sehen ist. Es ist ein durchaus wichtiges Motiv, das die Literatur in der Geschichte häufig behandelt hat.
Einige Stunden lang verfolgten sie vor dem Fernseher die Berichte über das Attentat, dann taumelten sie eng umschlungen in Amys Zimmer, sanken aufs Bett und schliefen zum ersten Mal miteinander.
Doch hier ist es ein verschenktes Motiv. Das kann doch nun wirklich jeder. Aber als Leser möchte ich wissen, wie sich die beiden fühlen, ob sie zufrieden oder glücklich sind, ob sie Schuldgefühle haben und dergleichen. Erst nach drei Geschichten (und somit erst im nächsten Kapitel) führt es Auster fort. Jedoch hat er mich bis dahin verloren. Die Stimmung dieser Szene ist bis dahin in Vergessenheit geraten. Somit ist dieses Motiv misslungen.
Langweilig hoch zehn
Dagegen stellte sich mir beim Lesen des Romans meist nur eine Frage: Was geht mich das eigentlich an? Das geht mich überhaupt gar nichts an! Es fesselt mich nicht. Es reizt mich nicht. Die gesamten Beschreibungen von Baseball, Basketball und Spielverläufen öden mich an. Es ist langweilig hoch zehn! Auch die ellenlangen Aufzählungen von britischen Schauspielern in amerikanischen Filmen – was soll das? Es erscheint doch eher wie eine überflüssige Zurschaustellung von Kenntnissen, die nicht einmal zum Geschehen des Romans beitragen. Noch dazu hetzt Paul Auster seine Leser förmlich durch das Buch, da seine Sätze kein Ende finden. Kommas über Kommas – kein Ende ist in Sicht. Dabei mag ich lange Sätze und Schachtelsätze sehr, wenn sie gekonnt gebildet wurden. Austers langfädige Sätze sind alles andere als gekonnt; die Unzahl an Kommas führen zu einer Treibjagd durch das Buch. Das Lesen ist unangenehm.
Bildungsroman und Geschichtsbuch?
Nein, dieser Roman ist unbrauchbare Prosa. Er erinnert mich eher an Highschool- oder Collegefilme, sexbesessene Teenager, Angst vor der Zukunft, und all das eingebettet in die unruhigen Zeiten Amerikas der 50er und 60er Jahre. In einigen Kritiken wird dann mit pompösen Begriffen herumgeworfen; der Roman sei ein Geschichtsbuch und ein großartiger Bildungsroman. Für diejenigen, die sich nicht täglich mit literaturwissenschaftlichen Begriffen auseinandersetzen, sei hier eine kurze Erklärung eingefügt:
Großform erzählender Prosa, bestimmt durch die Entwicklungsgeschichte eines jungen Protagonisten. […] Erzählerische Darstellung des Wegs einer zentralen Figur durch Irrtümer und Krisen zur Selbstfindung und tätigen Integration in die Gesellschaft. 1
Bildungsroman, auch: Entwicklungsroman; Romantypus, in welchem in Form einer fiktionalen Biographie die Bildung eines Helden dargestellt wird. Der B. zeigt die Entwicklung der Hauptfigur in Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Bereichen der Wirklichkeit, und zwar von Jugend an über verschiedene, meist krisenhaft erlebte Phasen bis hin zum Erreichen einer gefestigten Ich-Identität. 2
Aber nur weil der Leser im Roman erfährt, was die Hauptfigur alles liest, was sie alles im Studium behandelt, macht es den Roman noch lange nicht zu einem großartigen Bildungsroman. Dem Bildungsroman (im Sinne von Entwicklungsroman) wird insofern nachgekommen, dass die Entwicklungen der verschiedenen Fergusons vom Kindesalter bis zum jungen Erwachsenen dargestellt werden.
Der Roman ist im ereignisreichen gesellschaftlichen und politischen Zeitgeschehen Amerikas der 50er und 60er Jahre angesetzt: Wahlen, Kennedy und das Attentat, Martin Luther King, Besetzung der Columbia-Universität, Rassenunruhen, Judenfeindlichkeit, entstehende Frauenbewegung, Koreakrieg, Vietnamkrieg, Johnson, Nixon und so weiter. Mit einem Geschichtsbuch hat das allerdings nichts zu tun. Eine wirkliche Geschichtsvermittlung findet nicht statt.
Da der Autor letztlich nicht viel zu sagen hat und da seine erzählerische Begabung sehr gering ist, überfrachtet er seinen Roman mit Autoren, Büchertiteln, geschichtlichen Ereignissen, Schauspielern, Komponisten, Malern, sodass der vermeintliche Bildungsroman eher ein schwülstiges und nervendes Bildungsgelaber wird.
In meinem Buch geht’s darum
Ich habe mich gequält. Ich habe so unendlich gelitten. Und hätte ich nicht darüber schreiben wollen, hätte ich nicht bis zum Ende gelesen, sondern ihn in die Ecke gefeuert. Verlorene Zeit! Paul Auster ist wahrlich ein kluger Kopf. Als Anglist und Absolvent der Vergleichenden Literaturwissenschaft ist er auch mit literarischen Mitteln und Literaturtheorien bestens vertraut. Es mangelt ihm also nicht an der Theorie, und ich meine, dass er einer von vielen ist, die wunderbar über Literatur sprechen können, selbst aber nicht fähig sind, eigene zu produzieren. Seine Ideen hätten spannend und mitreißend sein können, denn an Stoff mangelt es wahrlich nicht. Jedoch bilden Inhalt und Form noch immer eine Einheit. Die Form allerdings ist missraten, sodass der Inhalt bedeutungslos wird.
Zudem will mir scheinen, dass er sich dessen auch völlig bewusst ist. Andernfalls müsste er den Lesern nicht ständig im Roman erklären, worum es eigentlich geht. Entweder hält er seine Leser für blöd, oder er hat Angst, nicht verstanden zu werden. Vielleicht weiß er auch, dass sein Aufbau verunglückt ist. Was wäre, wenn? Ja! Was wäre, wenn ich den Roman nicht gelesen hätte?
Nein, Auster ist für mich kein begabter Romancier. Allerdings hätten ihm wahrscheinlich die Baseballspielbeschreibungen und Kurzgeschichten im Buch eine glänzende Zukunft als Sportreporter oder Kurzgeschichtenautor beschert – und mir einen üblen Roman weniger.
Informationen zum Buch und Verlag
Verlag: Rowohlt
Gebundene Ausgabe, 1264 Seiten, 4. Auflage (31. Januar 2017), 29,95 €
ISBN-10: 3–498-00097–7
ISBN-13: 978–3‑498–00097‑4
- Jacobs, Jürgen: Bildungsroman. In: Fricke, Harald (Hrsg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Band 1. Berlin, New York: de Gruyter 1997, S. 230. ↵
- Heinz, Jutta: Bildungsroman. In: Burdorf, Dieter; Fasbender, Christoph; Moennighoff, Burkhard (Hrsg.): Metzler Lexikon Literatur. Begriffe und Definitionen, 3., völlig neu bearbeitete Auflage. Stuttgart, Weimar: Verlag J. B. Metzler, S. 88. ↵